• Berlin
  • Geförderter Wohnraum

Sturz ins Bodenlose

Drastische Mieterhöhungen und Eigenbedarfskündigungen bedrohen Abertausende Mieter sozial gebundener Wohnungen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 8 Min.

In Berlin wird viel über den schwindenden Bestand von klassischen Sozialwohnungen diskutiert. Knapp 969 000 Haushalten in der Hauptstadt, die Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein haben, stehen nur noch etwa 89 000 Sozialwohnungen gegenüber, wie Antworten auf schriftliche Anfragen des wohnungspolitischen Sprechers der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Niklas Schenker, ergeben.

Bei Abertausenden weiteren Wohnungen im ehemaligen Ostteil Berlins, die in den Sozialwohnungsstatistiken nicht mitgezählt werden, droht ebenfalls der Auslauf der Bindungen. In den dortigen Sanierungsgebieten wurden im Rahmen des Programms der sozialen Stadterneuerung von 1990 bis 2003 großzügig Fördergelder für die Instandsetzung der oft äußerst maroden Wohnhäuser verteilt. In Pankow etwa galt dies nach Recherchen der Initiative Kieztreffen Pankow für mindestens 7000 Wohnungen. Stark genutzt worden ist das Instrument unter anderem auch in Alt-Mitte, Friedrichshain und Lichtenberg.

Um die Fördermittel zu erhalten, mussten die Eigentümer der Häuser sogenannte Förderverträge mit dem Land Berlin, vertreten durch die Investitionsbank Berlin, abschließen. Im Gegenzug für die gewährten Gelder mussten die Eigentümer für 20 bis 30 Jahre Verpflichtungen zum Schutz der Mieterinnen und Mieter eingehen. Damit wurde die noch fast unbegrenzt mögliche Modernisierungsumlage auf den Durchschnittswert des Mietspiegels gekappt. Geringverdienende konnten die Miete noch weiter reduzieren, auf zuletzt 5,15 Euro nettokalt pro Quadratmeter. Außerdem waren Eigenbedarfs- und Verwertungskündigungen ausgeschlossen und die Bezirke hatten ein Belegungsrecht für freiwerdende Wohnungen.

Mindestens 3600 Haushalte allein in Pankow sind in den kommenden Jahren von dem Auslaufen der Bindung betroffen. Das kann nicht nur einen sprunghaften Anstieg der Miete zur Folge haben, sondern auch die Eigenbedarfskündigung.

»Wie ein Damoklesschwert hängt das Ende der vereinbarten Zeit mit Kündigungsschutz für die Mieter über dem fünfstöckigen Haus in der Oderberger Straße«, beschreibt Anke Nussbücker die Lage in ihrem Haus in Prenzlauer Berg. Vor fast 20 Jahren wurde das Mietshaus mit Fördermitteln der Investitionsbank Berlin saniert. »Noch während oder kurz nachdem die langjährigen Mieter aus ihren vorübergehenden Umsetzwohnungen in ihre nun frisch sanierten Mietwohnungen zurückkehrten, wurden diese allesamt in Eigentumswohnungen umgewandelt und einzeln an sogenannte Kapitalanleger verkauft«, berichtet die Journalistin und Autorin Nussbücker, die auch für »nd« schreibt.

Die Bindung nähert sich ihrem Ende. Die steuerrechtlichen Vergünstigungen für die Kapitalanleger laufen aus. »Die ersten der damaligen Käufer wollen ihre Eigentumswohnung, in der viele Mieter bereits seit den 1980er Jahren wohnen, nun mit Gewinn veräußern«, sagt Nussbücker. Ein Makler, der nicht namentlich genannt werden will, habe im Gespräch mit ihr die Erwartung geäußert, dass 90 Prozent der Käuferinnen und Käufer selbst dort wohnen wollten. Weil die Aufteilung der Häuser in Eigentum bereits so lange her ist, sind sämtliche Schutzfristen für die Eigenbedarfskündigung längst ausgelaufen.

»Die erste Nachbarin im Hinterhof hat die Kündigung für ihre Wohnung bereits auf dem Tisch. Bis Ende dieses Jahres muss sie ausgezogen sein«, so die Journalistin. Eine in der Nähe wohnende Freundin stehe vor der gleichen Situation. Ihre Kündigung laufe zwar mit einer relativ langen Frist von einem Jahr, doch die neuen Besitzer, eine Familie mit kleinen Kindern, wollten so schnell wie möglich einziehen.

»Aber wo soll das Ehepaar nun hin?«, fragt Nussbücker. Die Frau müsse aus betrieblichen Gründen in Altersteilzeit arbeiten. »Hätte sie in dieser Frage ihrem Arbeitgeber nicht zugestimmt, wäre sie entlassen worden«, berichtet die Journalistin. Der Ehemann arbeite freiberuflich, der Sohn befinde sich noch in der Ausbildung.

Eine Nachbarin in Nussbückers Wohnhaus in der Oderberger Straße habe die Möglichkeit gehabt, vor dem Verkauf ihrer Wohnung mit dem Makler zu sprechen. Es werde sehr schwierig sein, einen Kapitalanleger zu finden, der die Wohnung nicht erwerben würde, um dort selbst einzuziehen. Denn der Kaufpreis liege weit höher, als es der zu erwartende Gewinn durch Vermietung rechtfertigen würde.

Laut dem aktuellen Marktbericht des Berliner Maklers Guthmann Estate werden sogenannte gebrauchte Eigentumswohnungen in Prenzlauer Berg im Mittel für 6970 Euro pro Quadratmeter verkauft. Immobilienwirtschaftlich gerechnet ergäbe das Nettokaltmieten von mindestens 30 Euro pro Quadratmeter. Doch schon die mittlere Angebotsmiete von derzeit 17,20 Euro nettokalt pro Quadratmeter liegt weit jenseits der finanziellen Möglichkeiten der meisten Berlinerinnen und Berliner.

Für die langjährigen Mieter bedeutet das, in einer weit entfernten Wohngegend suchen zu müssen, sofern sie überhaupt irgendwo in Berlin fündig werden. »Der Zusammenhalt zwischen den Nachbarn, die gegenseitige Hilfe und Unterstützung würden die meisten Anwohner schmerzlich vermissen, wenn dann langjährige Nachbarn in alle Winde verstreut werden«, verdeutlicht Nussbücker.

»Wo sollen wir denn nach dem Ablaufen des Kündigungsschutzes hin?«, habe sie den Makler gefragt. Für sie wären damit viele weitere Fragen verbunden: »Wo wird dann meine Tochter zur Schule gehen? Wird sie ihre Freundinnen verlieren? Was passiert mit unserem sozialen Umfeld?« Der Makler habe »recht ungerührt und kaltschnäuzig« entgegnet: »Aber dann haben Sie hier ja immerhin 20 Jahre gehabt!«

»Unsere Tochter wird erst elf Jahre. Eigentlich bräuchten wir noch ein paar Jahre in dieser großen Wohnung. Ich empfinde die vereinbarte Schutzzeit als sehr willkürlich«, sagt die Journalistin. »Gern würden wir in eine kleinere Wohnung umziehen, wenn unsere Tochter flügge geworden ist. Das ist aber noch nicht in zweieinhalb Jahren«, berichtet sie. Außerdem wären »selbst kleine Wohnungen für uns in unserer Gegend nicht bezahlbar«.

»Beinahe scheint es ein mephistophelischer Pakt zu sein, den das Land Berlin vor 20 Jahren da absegnete: Die langjährigen Mieter mit alten Mietverträgen aus den 1980er Jahren durften rund 20 Jahre nahezu sorgenfrei leben, um danach ins vollkommen Bodenlose zu stürzen«, resümiert Nussbücker. Auch sie habe nur an den guten Teil dieses Pakts geglaubt. »Die Alternative bestand in einer preisintensiveren Umsetzwohnung mit Staffelmietvertrag. Etwas anderes hatten mein Ehemann und ich bereits 2002 nicht gefunden.«

»Wenn die Bindungsfristen auslaufen, wird es eine Welle von Eigenbedarfskündigungen geben«, sagt die Berliner Mieteranwältin Carola Handwerg zu »nd«. Im vergangenen Jahr habe sie vier derartige Fälle gehabt. »Früher ging es vor allem um Modernisierungen und die entsprechenden Klagen, inzwischen wird Eigenbedarf immer mehr das Thema.«

Die Investitionsbank Berlin habe in den vergangenen Jahren auch zugelassen, dass Eigentümerinnen und Eigentümer sich aus den Bindungen herauskauften, berichtet Handwerg. Damit ist die gedeckelte Miete passé. Doch es sei ihr zumindest gelungen, daraus resultierende Eigenbedarfskündigungen zu verhindern, so Handwerg. »Die Mieterinnen und Mieter können sich auf den Fördervertrag zwischen Eigentümer und Investitionsbank berufen, der nämlich zugunsten Dritter, also zu ihren Gunsten, geschlossen worden ist«, sagt die Anwältin. »Weil das ein Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben ist, wurde die Räumungsklage abgewiesen.« Die Sanierungsförderung sei damals sogar für bereits aufgeteilte Mietshäuser gewährt worden, erzählt sie kopfschüttelnd von der Praxis.

Der vom Bundesverfassungsgericht kassierte Berliner Mietendeckel hätte auch in diesen speziellen Fällen zumindest Mieterhöhungen unterbunden, da es sich um keine Sozialwohnungen im Rechtssinn handelt. Mindestens ein Bezirk hatte laut Informationen von »nd« bereits Verfahren gegen einen besonders bekannten Hausaufkäufer und Sanierer vorbereitet: Gijora Padovicz. Nach dem Muster eines Staffelmietvertrags hätte es in einem »nd« vorliegenden Vertrag mit Auslaufen der Bindungsfrist eine schlagartige und drastische Mieterhöhung geben sollen.

»Berlin hat weiter ein massives Wohnraumversorgungsproblem, das in den nächsten
Jahren durch die Abnahme der Zahl an mietpreis- und belegungsgebundenen Wohnungen zunehmen wird«, sagt Linke-Wohnungsexperte Niklas Schenker zu »nd«. Zumal in den kommenden vier Jahren neben den über die Sanierungsförderung der Nachwendezeit noch gebundenen Tausenden Wohnungen weitere 20 000 der klassischen Sozialwohnungen aus der Bindung fallen werden, wie die Stadtentwicklungsverwaltung auf Schenkers Anfrage erklärt.

Zwar habe der Senat sich vorgenommen, jährlich 5000 neue Sozialwohnungen zu bauen, doch selbst wenn das gelänge, würde das höchstens die wegfallenden Wohneinheiten kompensieren. »Das Grundproblem bleibt: Gewährt man Privaten Förderungen, dann werden die Wohnungen mit Auslaufen der Bindung teuer«, sagt Schenker.

»Der private Wohnungsneubau hat in den vergangenen Jahren nur einen marginalen Beitrag dazu geleistet, die Sozialwohnungen zu bauen, für die es ganz offensichtlich den höchsten Bedarf gibt«, so der Linke-Politiker. Vor allem die landeseigenen Wohnungsunternehmen seien »Garant für bezahlbaren und bedarfsorientierten Neubau«.

»Wir sollten einen großen Teil der für die Wohnungsbauförderung vorgesehenen Haushaltsmittel von jährlich 740 Millionen Euro, die bisher als zinsgünstige Kredite an private und öffentliche Bauherren ausgereicht werden, direkt zur Finanzierung des kommunalen Wohnungsbaus einsetzen«, fordert der Mietenexperte. Kürzlich hatte sich bereits der haushaltspolitische Sprecher der Linksfraktion, Steffen Zillich, im Interview mit »nd« für so ein Umdenken in der Förderpolitik ausgesprochen.

»Neben mehr sozialem Wohnungsbau brauchen wir auch Instrumente, um den Bestand bezahlbar zu halten«, sagt Schenker. Dazu gehörten der Ankauf von auslaufenden Sozialwohnungen durch die landeseigenen Wohnungsunternehmen, aber auch mietrechtliche Instrumente wie die Einführung eines Mietendeckels durch den Bund. »Mit der Vergesellschaftung sollen günstige Wohnungen im Bestand bezahlbar gehalten und besser verteilt werden, um das Wohnraumversorgungsproblem zu lösen«, unterstreicht er auch seine Unterstützung für die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen.

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