Ab in den Keller

In Berlin den Strom ablesen ist gefährlich

  • Robert Rescue
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit 1944 ist das Original des Bernsteinzimmers verschollen, hier die detailgetreue Rekonstruktion im Katharinenpalast in St. Petersburg.
Seit 1944 ist das Original des Bernsteinzimmers verschollen, hier die detailgetreue Rekonstruktion im Katharinenpalast in St. Petersburg.

Jedes Jahr das Gleiche. Stromzählerablesung im Keller. Manchmal wünschte ich mir, woanders zu leben. Da ging das so: Treppensteigen, Licht anmachen, Zählerstand vermerken, Licht ausmachen, Treppensteigen. Also ziemlich einfach.

Aber in Berlin geht man in den Keller, und wenn man Pech hat, bleibt man dort und reiht sich schlimmstenfalls als Zombie in ein Monsterkabinett ein oder dient als Futter für die Kellerfauna.

Erstmal habe ich meinen Neopren-Taucheranzug angezogen. Kaum zu glauben, aber der half. Geifernde Zähne drangen nicht durch das eigentlich dünne Material. Anscheinend mochten die Ratten den Synthetikkautschuk nicht. Ich packte noch den Benzinkanister, den Flammenwerfer, den Baseballschläger und das Essenspaket ein – falls ich mich verirren würde – und ging dann hinab.

Als Erstes verbrannte ich die Spinnweben, die direkt hinter der Tür eine beinahe unüberwindbare Barriere gebildet hatten.

Ein paar Spinnen gingen mit drauf und ich bildete mir ein, ihre Todesschreie zu hören, als sie den Feuertod starben. Handgroße pelzige Bestien, die teilweise noch eine halbe Ratte im Maul hatten. Ihre jeweils acht grünen Augen blickten mich hasserfüllt an. Okay, diese Augenanzahl ist bei Spinnen ebenso wenig möglich wie die halbe Ratte im Maul, aber diese Vorstellung kam der Gefährlichkeit nahe, die von diesen Monstern ausging.

Ich bewegte mich weiter und entdeckte in einem offenen Keller einen Karton Sonnenblumenöl. Mein Gott, was für ein Schatz! Wo kam der her? Egal, ich packte ihn unter den Arm. Später würde ich auf dem Bürgersteig einen Tisch aufbauen und jede Flasche für zehn Euro, ach Quatsch, 20 Euro verkaufen. Während ich mir meinen Gewinn ausrechnete, kam eine Gestalt auf mich zu. Sie torkelte und ich wusste Bescheid. Ich richtete den Flammenwerfer auf die Kreatur. Im Schein der Flammen sah ich ein Gesicht. Es gehörte Jonas, dem Studenten aus dem Erdgeschoss, der nicht hatte glauben wollen, dass der Gang in den Keller gefährlich sein konnte. Vermutlich hatte er kürzlich von seinem Stromanbieter die Aufforderung zur Ablesung bekommen, war furchtlos herabgestiegen und auf einen längst vermissten Mieter gestoßen, der zum Zombie geworden war und ihn infiziert hatte. »Ruhe in Frieden, Jonas!« sagte ich zum Abschied und stieg über den Haufen Asche.

Ich ging weiter und kam zu einer Reihe von Holzkisten, auf denen Hakenkreuze eingebrannt waren. Ach so, das von den Nazis versteckte Bernsteinzimmer! Ich hatte es schon längst aus dem Keller holen wollen, aber ich hatte keinen Platz, um es aufzubauen. Angesichts der Inflation aber schien es mir bald nötig, mal ein paar Schätze zu Geld zu machen, und das Bernsteinzimmer würde einiges mehr bringen als der Karton Sonnenblumenöl. Ich werde die Kisten bald mitnehmen, sagte ich mir.

Dann erreichte ich die Stromzähler. Aus den Tiefen des Kellers hörte ich ein Brüllen. Ein Löwe? Ein Dämon? Oder der Zombie, der Jonas auf dem Gewissen hatte? Ich wollte es nicht wissen. Eilig las ich den Zählerstand ab und bewegte mich zurück zum Eingang. Trotz aller Widrigkeiten hat sich der Ausflug in den Keller gelohnt. 23,98 Euro habe ich zurückbekommen.

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