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  • Spurensuche in Thüringen

Luther – Macht und Fluch der Worte

Auf der Wartburg und in Eisenach auf Wegen und Abwegen des Reformators

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Wartburg ist schon von weitem sichtbar.
Die Wartburg ist schon von weitem sichtbar.

Adam und Eva, Kain und Abel, Josef und seine Brüder. Maria und Josef, Jesus und Judas, Petrus und Pilatus … Geheiligte Gestalten geben uns das Geleit. Dorthin, wo die »deutscheste« aller Burgen inmitten des Thüringer Waldes in den Himmel über Eisenach aufragt: die Wartburg. Neuneinhalb Jahrhunderte Geschichte und Geschichten. Macht und Mythos, Kult und Kultur, Tradition und Reaktion. Sängerkrieg und Wartburgfest, Heilige Elisabeth und – natürlich – Martin Luther (1483–1546). Wetterte der Reformator einst gegen unberechtigte Ablässe, sorgt er nun für berechtigte Anlässe. Gut für das Luther-Land Thüringen, wo sich neben anderen Stätten die für die Vita des Papst-Widersachers wesentliche Wartburg befindet.

Reiseinfos
  • Ausstellungen: »Luther übersetzt. Von der Macht der Worte«. Sonderausstellung auf der Wartburg bis 6. November 2022; Eisenacher Pilgerbibel – Die längste ­Bibel der Welt«. Bis 31. Oktober 2022. Start: am Beginn des Reuterweges an der Reuter-Wagner-Villa im Eisenacher Helltal; »Luther und die Bibel«. Dauerausstellung im Lutherhaus Eisenach; »Erforschung und Beseitigung. Das kirchliche ›Entjudungsinstitut‹ 1939–1945«. Sonderausstellung im ­Lutherhaus Eisenach bis 23. Dezember 2022.
  • Mehr Infos: eisenach.info/500-jahre-­bibelubersetzung-luther-2021-2022
    • Die Recherche wurde unterstützt von der Thüringer Tourismus GmbH

2017: 500 Jahre Thesen-Proklamation. Vier Jahre später: 500-jähriges Jubiläum der Verbringung Luthers auf die Wartburg. Diese von seinen Anhängern vorgetäuschte Entführung folgte der Widerrufsverweigerung des Religionsrebellen vor Kaiser und Reichstag in Worms. Letztere gilt als Schlüsselmoment der Reformationsgeschichte. Die Rettung des trotzigen Theologen vor den Folgen der Reichsacht thematisierte die Wartburg-Stiftung 2021 mit der Ausstellung »Luther im Exil« (nach »Luther und die Deutschen« 2017).

Doch damit nicht genug. Abgeschnitten von anregendem Austausch, geplagt von Langeweile, Verdauungsbeschwerden sowie geistlichen und fleischlichen Anfechtungen, übersetzte Luther in seinem luftigen Exil 1521/22 innerhalb von elf Wochen das Neue Testament aus der altgriechischen Urfassung ins Deutsche – ein intellektueller Kraftakt mit seinerzeit nicht absehbaren Folgen: Hatte Luther Kirche und Gesellschaft zunächst gespalten wie keiner vor ihm (was er nicht wollte), so wirkte er nun auf die nationale Einheit der Deutschen wie keiner vor ihm (was er nicht beabsichtigte). Goethes Diktum, die Deutschen seien ein Volk erst mit Luther geworden, ist die berühmteste unter den zahllosen Reverenzen für den Mann, der wie kein anderer einzelner Mensch die deutsche Sprache schöpferisch gestaltet, nachhaltig geprägt und zu einer kommunikativen Kraft geformt hat, die tragfähiges politisches Wirken erst ermöglichte, und sie so – mit einem Wort des Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) – wahrhaftig zum »Haus des Seins« machte.

Derbe Volkssprache und feine Poesie

Der doppelsinnige Titel der aktuellen Wartburg-Sonderausstellung »Luther übersetzt. Von der Macht der Worte« enthält die Quellen der Exposition, die zugleich deren Bestandteile sind: Wie hat Luther gearbeitet bei der Übertragung der Bibel aus dem Griechischen (Neues Testament, 1522 abgeschlossen) und dem Hebräischen (Altes Testament, 1534 abgeschlossen)? Wie wurde Luthers Sprache über die folgenden Jahrhunderte eingesetzt, umgesetzt und – ja – wiederum übersetzt? Mit seinem berühmten »Sendbrief vom Dolmetschen« hat Luther dieser Profession ein bis heute gültiges Manifest gegeben.

Denn die »Macht der Worte« wohnt diesen nicht notwendig inne, sie muss ihnen mit Kunst und Kraft beigefügt werden. Im Unterschied zu früheren Übertragungen ins Deutsche aus der lateinischen Vulgata-Bibel ist die Lutherbibel keine schale Scholastik, sondern eine geballte Ladung explosiv-expressiver Sprachgewalt. Bilder, Metaphern, Wortspiele, Redewendungen. Vieles davon neu geprägt, kombiniert, justiert vom Sprachtitan aus Wittenberg (man denke nur an »Feuereifer« und »Herzenslust«). Nicht das kleinliche Klammern am einzelnen Wort gilt, sondern ein Text, der die größte Wirkung und das beste Verständnis verspricht. Derbe Volkssprache und feine Poesie sind gleichermaßen darauf gerichtet, Geist und Gemüt der Menschen mit dem zu erreichen und zu erfüllen, was den Gottesknecht Martin antrieb, vorantrieb und was ihn klerikalen wie weltlichen Gegnern so entschlossen widerstehen ließ: das in der Heiligen Schrift offenbarte Wort Gottes.

Wie dieses Wort durch die Jahrhunderte mäanderte im nie endenden Ringen um die treffendste, genaueste, originärste, effektvollste Übertragung und Wiedergabe; wie Bach und Mendelssohn Bartholdy dieses Wort mit Noten versahen und ihm damit neue Wirkungsmacht verliehen; wie Revisionen, Um- und Überformungen für Debatten sorgten und sorgen (Volxbibel, Bibel in gerechter Sprache) – das bietet »Luther übersetzt« in perfekter Choreografie. Handschriften, Bibelausgaben, Revisionsprotokolle, Bild- und Tondokumente, Bände zum Blättern und Nachlesen – die Kuratoren haben alles aufgeboten, um die Besucher optisch, akustisch und haptisch in den Bann der Bibelübersetzung(en) zu ziehen.

Der evangelische Theologe Heinz Zahrnt (1915–2003) schrieb einmal: »Die Reformation hat im Grunde nur eine einzige Ursache: die Gewissensnot eines einsamen, mit Gott ringenden, an Gott verzweifelnden Menschen, der zunächst überhaupt nicht nach den Missständen in der Kirche und der Welt, sondern nur nach seinem eigenen, persönlichen Missstand fragte. Ihn trieb allein die ganz persönliche Sorge um sein ewiges Seelenheil: Wie kann ich, Martin Luther, vor dem ewigen und gerechten Gott bestehen?« Eine Gewissensnot mit zeiterschütternden und weltstürzenden Folgen. Die den Menschen und der Gesellschaft zu Nutz und Frommen gereichenden Folgen sind auf der Wartburg zu besichtigen. Wer nicht nur die im Licht, sondern auch die im Dunkeln sehen will, muss wieder absteigen zurück in die Lutherstadt Eisenach.

Und da begegnen sie uns alle wieder, nun in umgekehrter Reihenfolge: von den Reitern der Apokalypse bis zum Herrn, der am siebten Tage ruht. Das kolossale Bildbegleitwerk entlang des Wartburg-Weges ist das Opus magnum des Multikünstlers Willy Wiedmann (1929–2013). Der Stuttgarter Maler, Bildhauer, Komponist und Schriftsteller war besessen von der Idee, die Bibel ein weiteres Mal komplett zu übersetzen – diesmal in die Sprache der Bilder. In einem sechzehnjährigen schöpferischen Schaffensrausch von 1984 bis 2000 schuf Wiedmann 3333 großflächige Gemälde, die sämtliche Bücher des Alten und Neuen Testaments mit ihren schicksalssatten Geschichten in ein grandioses bildkraftstrotzendes Panorama verwandelten.

Doch die Veröffentlichung eines solchen – 19-bändigen – Leporellos war seinerzeit technisch nicht möglich. Wiedmann verstaute das Œuvre in vier Kisten auf dem Dachboden seiner Galerie, wo es erst postum 2013 von seinem Sohn Martin Wiedmann wiederentdeckt und digitalisiert wurde. In den folgenden Jahren gelang es Martin Wiedmann, die einzigartige Kreation seines Vaters durch Bücher, DVDs und Internet sowie mit Präsentationen in Europa und den USA bekannt zu machen. Mit der aktuellen 1,7 Kilometer langen Ausstellung »Eisenacher Pilgerbibel – Die längste Bibel der Welt« ist das Meisterwerk (natürlich als wetterfeste Kopien) erstmals für einen längeren Zeitraum vollständig der Öffentlichkeit zugänglich.

Eine fatale Schmähschrift

Wieder unten angekommen, lohnt der Besuch im Lutherhaus Eisenach. Die neu gestaltete Dauerausstellung »Luther und die Bibel« ergänzt nicht nur das zuvor auf der Wartburg Erschaute. Es bringt auch jene Publikation in den Blick, deren Wirkungsgeschichte ebenso wie die der Lutherbibel (leider) kaum zu überschätzen ist: die fatale Schmähschrift »Von den Juden und ihren Lügen« (1543). Die hassgefügte Hervorbringung, der weitere, noch widerwärtigere Pamphlete folgten, markiert den Moment, da Luthers anfängliches Wohlwollen gegenüber den Juden in »scharfe Barmherzigkeit« umschlug, die in bösartigster Rage das Niederbrennen der Synagogen, ein Verbot der mosaischen Religion und die wirtschaftliche Zernichtung des Judentums forderte.

Zwar entfesselte nicht rassenbiologisch metastasierter Vernichtungsantisemitismus die blindwütigen Ausbrüche des Reformators, sondern dessen Frustration wegen der »verstockten« Juden, die immer noch nicht in Scharen zu seiner neuen Lehre konvertierten. Doch boten die toxischen Tiraden des wortmächtigsten Theologen deutscher Sprache Antisemiten jeglicher Couleur eine willkommene Vorlage. So dem 1939 von elf evangelischen Landeskirchen in Eisenach gegründeten »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«. Im Lutherhaus Eisenach informiert eine Sonderausstellung über dieses bis zum Kriegsende sein Unwesen treibende »Entjudungsinstitut«, das in Propaganda und Publikationen ausdrücklich auf Luther und seine Judenschriften Bezug nahm. Gezeigt wird auch die bruchlose Kontinuität der Karrieren von Beteiligten in der frühen Bundesrepublik.

Nach der Monstrosität des Bösen die Banalität des Kitsches: Im Museumsshop gibt es den Reformator wahlweise als Gummiente oder als Playmobil – ausgerüstet mit Bibel, Schreibfeder, Talar und Doktorhut. Auch »Luthersocken« sind im Angebot. Mit dem Aufdruck »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders«. Luthers berühmt-heroische Worte in Worms – die er allerdings nie gesagt hat.

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