Vom Krieg in die Unsicherheit

Ab 1. September könnten aus der Ukraine geflohene Drittstaatsangehörige abgeschoben werden. Linke und NGOs fordern bundeseinheitliche Lösung

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Zukunft vieler Roma und Sinti, die aus der Ukraine geflohen sind, ist ungewiss.
Die Zukunft vieler Roma und Sinti, die aus der Ukraine geflohen sind, ist ungewiss.

Leben retten, unabhängig vom Pass – das kündigte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) noch im März an. Alle Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, sollten in Deutschland Schutz suchen können. De facto sieht es anders aus. Pro Asyl und Flüchtlingsräte in Deutschland warnen davor, dass ab dem 1. September Tausende Drittstaatsangehörige ausreisepflichtig werden könnten. Die Bundestagsabgeordnete und fluchtpolitische Sprecherin der Linken, Clara Bünger, hat sich deshalb am Mittwoch in einem offenen Brief an die Innenministerin gewendet. »Die Menschen sind vor demselben brutalen Krieg geflohen, auch ihre Pläne wurden zerstört, auch sie stehen vor dem Nichts und müssen sich ein neues Leben aufbauen. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund für diese Ungleichbehandlung«, schreibt sie darin. Wenn es nach ihr geht, sollte Faeser die Länder anweisen, allen Geflüchteten aus der Ukraine den vorübergehenden Schutz zu gewähren, »ohne dass zuvor die Rückkehrmöglichkeit in ihr ursprüngliches Herkunftsland geprüft wird«. Laut Schätzungen der Bundesregierung haben etwa 29 000 Menschen aus der Ukraine ohne ukrainische Staatsbürgerschaft in Deutschland Zuflucht gesucht, darunter fallen viele schwarze Menschen und People of Color, viele Studierende, aber auch Unternehmer*innen und Arbeiter*innen, die erst seit kürzerer Zeit in der Ukraine gelebt haben sowie Staatenlose, zum Beispiel Roma und Sinti.

Bis jetzt wird die vereinfachte Regelung nach Paragraf 24 nur für ukrainische Staatsbürger*innen und Drittstaatsangehörige mit unbefristetem Aufenthalt oder Familienangehörigen in der Ukraine angewendet. Alle Drittstaatsangehörigen, auf die das nicht zutrifft und die nach Auffassung der Ausländerbehörden »sicher« in ihr Herkunftsland zurückkehren können, waren bis zum 31. August immerhin von der Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit. Ab Donnerstag gilt für Neuankommende eine Befreiung für 90 Tage. Wer sich schon länger in Deutschland aufhält, muss einen Aufenthaltstitel beantragen. Juliane Gebel ist bei BIPOC Ukraine and Friends in Germany aktiv. Sie beobachtet: »Die Menschen sind verzweifelt und verunsichert. Einige beantragen Asyl, obwohl ihre Chancen darauf schlecht stehen.« Auch ihre Organisation fordert die Anwendung von Paragraf 24 auf alle Geflüchteten aus der Ukraine bundesweit ohne Ausnahmen. Jede Kontaktaufnahme mit der Bundesministerin blieb bislang ohne Erfolg.

Ein Kritikpunkt ist auch die uneinheitliche Vorgehensweise der Behörden in der Bundesrepublik. Einige Kommunen, darunter Berlin, Hamburg und Leipzig, schaffen Lösungen für die Betroffenen. Berlin beispielsweise erteilt allen studierenden Drittstaatsangehörigen aus der Ukraine eine Fiktionsbescheinigung, mit der sie sich sechs Monate lang weiterhin legal in Deutschland aufhalten dürfen. In anderen Kommunen gibt es nichts derartiges, einige Menschen wurden bereits jetzt mit Briefen zur Ausreise aufgefordert. »Die Zukunft der Menschen sollte nicht davon abhängig sein, wo in Deutschland sie angekommen sind oder hinverteilt wurden«, sagt Gebel. Außerdem blieben die Anforderungen für eine Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken auch in Berlin weiterhin hoch, kritisieren Pro Asyl und die Flüchtlingsräte. Internationale Studierende müssen fortgeschrittene Sprachkenntnisse und ein Sperrkonto über 10 000 Euro nachweisen. Auch werde das Problem auf diese Weise nur um sechs Monate verschoben und nicht gelöst, heißt es in der gemeinsamen Erklärung. »Es reicht nicht, dass einzelne Länder aktiv werden. Das Bundesinnenministerium muss eine bundeseinheitliche Lösung erarbeiten«, fordert Wiebke Judith von Pro Asyl. »Alle Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, müssen gleich behandelt werden: Sie müssen Schutz bekommen und die Sicherheit, sich in Deutschland eine Perspektive aufbauen zu können. Das gehört zu einem von der Bundesregierung versprochenen Diskurswechsel in der Asyl- und Migrationspolitik.«

Bislang scheint es nicht so, als würde in diese Richtung noch etwas kommen. Auf Nachfrage von »nd.DerTag« erklärte das Ministerium, es sei ein »Missverständnis«, dass die bisherige Regelung auslaufe und verwies auf die nun gültige 90-Tage-Regelung. Diese ist aber nur eine Übergangslösung für Geflüchtete aus der Ukraine, die erst jetzt in die Bundesrepublik einreisen. 

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