Herbst im Frühling

Chiles Bevölkerung lehnt die neue Verfassung an der Urne mit aller Deutlichkeit ab

  • Malte Seiwerth, Santiago de Chile
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit Tränen in den Augen verschwinden die Befürworter*innen aus dem Wahllokal. Kein Wort, kein Kommentar – zu traurig ist für sie dieser Moment. Währenddessen Feierstimmung bei Soldat*innen und Gegner*innen des Verfassungsentwurf. Die ersten waren für die Sicherheit des Wahllokals verantwortlich und die zweiten überwachten im Namen des Rechazo – Ich lehne ab – den Wahlprozess. In kleinen Gruppen stehen sie im Hof des Wahllokals, ein Grinsen geht über ihr Gesicht, als die Verlier*innen an ihnen vorbeilaufen.

Zwei Stunden nach dem Schließen der Wahllokale ist das Ergebnis eindeutig, mit knapp 62 Prozent lehnt eine überragende Mehrheit den aktuellen Verfassungsentwurf ab. Er sollte soziale Rechte garantieren, Chile in einen plurinationalen Staat verwandeln und feministische Grundsätze in die Organisation des Staates einbauen. Es hieß, der Entwurf sei der Grabstein des neoliberalen Systems – nun ist er selber begraben worden.

Der Präsident der rechtsextremen Partei Unión Democrata Independiente sagte am gleichen Abend gegenüber versammelter Presse »das ist kein Sieg unserer Parteienkoalition, sondern der Arbeiter, Mineure, Landwirte und Fischer. Jener normalen Menschen, die Nein zu einem Projekt der Neugründung gesagt haben.«

Für den ehemaligen rechten Verfassungsabgeordneten Christián Monckeberg ist derweil klar: »Das Ergebnis ist ein herber Niederschlag für die radikale Linke und ihr Verständnis für Politik«, so Monckeberg am Sonntagabend.

Mit über 13 Millionen abgegebenen Stimmen, lag die Wahlbeteiligung bei rund 80 Prozent. Grund für die hohe Zahl ist, dass zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte die Teilnahme an der Wahl obligatorisch war und die Menschen automatisch im Wahlregister eingeschrieben wurden. Viele Wähler*innen – auch jene im höheren Alter – waren zum ersten Mal und nur aufgrund der angedrohten Geldbuße wählen.

Felipe Morales, ein Wahlbeobachter für das Befürwörter*innenlager, meint gegenüber dem »nd«, »ich habe noch nie so viel unbeholfen ausgefüllte Wahlzettel gesehen, wie auf der Seite des Gegner*innenlagers. Für mich bedeutet es, dass viele Erststimmenden die neue Verfassung abgelehnt haben.«

Das Gegner*innenlagers baute in der Kampagne genau auf diesen Sektor auf. Während der heißen Phase des Abstimmungskampfs schob man sogenannte Bürgergesichter in die erste Reihe. Der ehemalige rechte Präsident Sebastián Piñera hielt sich beispielsweise komplett aus dem Wahlkampf raus. Auch der rechtsextreme ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast tauchte erst am Abend des Wahlsieges in der öffentlichen Szene wieder auf. Gegenüber einer jubelnden Menge sagte er: »Wir wollen nie wieder unsere Fahne befleckt sehen.«

Schon vor der Abstimmung gingen Analysen davon aus, dass das Gegner*innenlager auf einer »Antipolitikkampagne« aufbaue. Die Abstimmung wurde damit in ein Votum gegen die »herrschende linke, woke und gebildete Politiker*innenklasse« verwandelt. Gleichzeitig vermischte sich die Abstimmung um die neue Verfassung mit einer ersten Evaluation der neuen linksreformistischen Regierung unter Gabriel Boric, die den verfassunggebenden Prozess förderte.

Für Gabriel Boric ist das Ergebnis ein herber Schlag. Zwar beteuerte der Präsident selber, seine Regierung und das Reformprogramm stünden über dem verfassunggebenden Prozess, doch machte er gleichzeitig klar, dass manche Reformen ohne eine neue Verfassung kaum umsetzbar sind. Schon jetzt fordern daher Politiker*innen vieler Couleur personelle Konsequenzen aus dem Debakel. Der sozialistische Abgeordnete Fidel Espinoza machte den Generalsekretär und rechte Hand des Präsidenten, Giorgio Jackson, als ideologischen Urheber eines Teils der Verfassung verantwortlich und forderte dessen Rücktritt.

Der Präsident selber lud gleich nach den ersten Abstimmungsergebnissen alle Parteien zu einer ersten Sitzung am Montag ein. Ziel sei es, einen neuen verfassunggebenden Prozess anzustossen. Denn, so die Interpretation, mit der Abstimmung sei nur dieser eine Verfassungsentwurf abgelehnt. Da aber im Oktober 2020 einer deutliche Mehrheit von knapp 80 Prozent gegen die aktuelle Verfassung und für eine neue gestimmt hätten, sei der Auftrag klar: Weiterhin muss eine neue Verfassung ausgearbeitet werden.

Wie das stattfinden soll, ist aber derzeit unklar. Schon jetzt lehnten die rechten Parteien die Einladung zur gemeinsamen Sitzung ab.

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