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Per Datenpanne kriminalisiert

Über drei Jahre versagte der digitale Austausch zwischen Staatsanwaltschaft und Hamburger Ausländerbehörde

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Trotz des enormen Nachholbedarfs bei der Digitalisierung ist man in Hamburg an einer Stelle auf der Höhe der Zeit: Wenn die Staatsanwaltschaft Aktenzeichen über die Ermittlungen gegen Ausländer vergibt, ergeht automatisch eine Meldung an die Ausländerbehörde. Durch eine Anfrage der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft kam nun jedoch heraus, dass seit dem 1. Januar 2018 eine Mitteilung über die Einstellung von Ermittlungen ausblieb. Davon seien zirka 80 000 Verfahren betroffen, gibt der Senat an. Die entsprechenden Datensätze seien »versehentlich nicht nachgepflegt« worden.

Die Panne soll passiert sein, weil aus »datenschutzrechtlichen Erwägungen« die elektronischen Akten bei der Staatsanwaltschaft »in mehrere – zum Teil neue – Unterkategorien aufgeteilt« wurden, zu denen es keine Entsprechung im Programm der Ausländerbehörde gab. Ob und in wie vielen Fällen die fehlende automatische Mitteilung inzwischen korrigiert wurde, weil die Ausländerbehörde im Zuge ihrer Feststellungen zum Aufenthaltsstatus bei der Staatsanwaltschaft nachhakte, weiß der Senat nicht. Das müsste »händisch aus allen Ausländerakten ausgewertet werden«, aber dafür reiche die Zeit zur Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage nicht. Obwohl er nichts Genaues weiß, ist sich der Senat aber sicher, »dass die unterbliebenen Einstellungsmitteilungen nicht zu falschen Entscheidungen geführt haben oder führen könnten«.

Das sieht Carola Ensslen, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linksfraktion, anders: »Ich gehe davon aus, dass der Fehler der Staatsanwaltschaft aufenthaltsrechtliche Entscheidungen negativ beeinflusst hat. Vielleicht sind sogar Menschen deswegen abgeschoben worden.« Ensslen bezweifelt auch, dass es zigtausende Rückfragen der Ausländerbehörde bei der Staatsanwaltschaft gab, durch die die automatische Nachricht überprüft wurde. Um genau solchen Aufwand zu ersparen, wurde der elektronische Aktenabgleich schließlich eingeführt.

Wären derartige Nachfragen in erheblicher Zahl vorgekommen, hätte im Laufe von drei Jahren die Panne bei dem Datentransfer längst auffallen können. Die Antwort auf die Frage von Linken-Politikerin Ensslen, warum der Fehler so lange nicht bemerkt wurde, bleibt der Senat schuldig. Jedenfalls ist es nicht vorgesehen, die betreffenden Fälle erneut vorzunehmen und zu prüfen, ob etwa Abschiebungen aufgrund falscher Daten und damit rechtswidrig erfolgten. »Das ist aufwändig, aber rechtsstaatlich geboten«, fordert Ensslen.

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Unklar ist außerdem, wie die hohe Zahl eingestellter Strafverfahren gegen die nach Stand vom 31. Dezember 2021 328 375 Ausländer in der Hansestadt zustande kommen. 2007 wollten Polizei, Politik und Presse im niedersächsischen Stade im Süden Hamburgs Rechtsgeschichte schreiben, indem sie ein Aufenthaltsverbot für die Innenstadt gegen eine Gruppe Jugendlicher mit Migrationshintergrund verhängten. Grundlage waren nicht ausgeurteilte Straftaten, sondern anhängige Ermittlungen. Geriet einer aus der Gruppe in Verdacht, wurden auch alle anderen von der Polizei vernommen und ein Verfahren gegen sie angestrengt. Auf dieser Basis wurde 2009 einer der Jugendlichen, der zwar in Stade geboren war, aber keinen deutschen Pass besaß, als »Intensivtäter« in sein unbekanntes »Heimatland« abgeschoben.

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»Racial Profiling« war zu der Zeit noch kein geläufiger Begriff. Der Hamburger Polizei wird immer wieder vorgeworfen, Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe zu kontrollieren. Jenseits der Datenpanne ist bedenklich, dass bereits Ermittlungen, bevor sie Ergebnisse erbracht haben, von der Ausländerbehörde für ihre Entscheidungen herangezogen werden können.

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