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Die Kunst des passiven Widerstands

An dieses Urbild reicht keiner heran: »Eseleien« – Dieter Goltzsche und Ingeborg Baier-Fraenger im Dialog über den Esel

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Kennen Sie eigentlich den »Eselskuss« aus dem Mittelalter? »Das Zahnweh vertreibt man, wenn man einen Esel küsst.«
Kennen Sie eigentlich den »Eselskuss« aus dem Mittelalter? »Das Zahnweh vertreibt man, wenn man einen Esel küsst.«

Esel sind so, wie Mahatma Gandhi die Menschen wollte: stolz, aber nicht überheblich, demütig, aber nicht unterwürfig. Mit anderen Worten: unerschütterlich eigensinnig. Dienstbereit, aber unter Vorbehalt. Früher wurden Esel als Lastenträger viel geprügelt, aber das nahmen sie stoisch hin. Unterwerfung ist ihre Sache nicht. Eher passiver Widerstand gegen jede Gewalt.

Sind Esel also die besseren Menschen? Vielleicht, nicht zufällig sind die »Eseleien« mit 123 Eselbildern von Dieter Goltzsche und einer Textauswahl von Ingeborg Baier-Fraenger, herausgegeben von Christof Baier, Adele gewidmet. Eine Eselin, in die sich Ingeborg Baier-Fraenger verliebt hatte und die sie fast gekauft hätte. Aber eben nur fast. Das war 1982, und in einem Brief schreibt sie an Dieter Goltzsche, der ihr tröstende Esel-Zeichnungen schickt: »Doch war es gut, dass ich vergangenen Sommer dem Kauf der kleinen Adele widerstand, denn so wirklich und vollkommen wie Ihre Zeichnungen konnte kein lebendiger Esel sein. An dieses Urbild reicht keiner heran.« So sind sie, die Platoniker aller Zeiten, überlassen für die Schönheit einer Idee einen kleinen Esel seinem Schicksal und widmen – vermutlich aus schlechtem Gewissen – diesem Jahrzehnte später ein Buch, das sie »Eseleien« nennen.

Tatsächlich ist die Idee zu diesem Buch vierzig Jahre alt. Fast wäre es eine Idee geblieben, denn Ingeborg Baier-Fraenger lebte als Pflegetochter im Hause des Kunstwissenschaftlers Wilhelm Fraenger und dessen Frau Gustel – und als beide gestorben waren, lebte sie allein in dem Haus mit der großen Bibliothek, ordnete den Nachlass und träumte von Eseln. Das Haus stand in Potsdam-Babelsberg direkt an der Grenze zu Westberlin. In die Bibliothek nach Ostberlin zu fahren, dauerte damals eine Ewigkeit – darum las sie, was in der Hausbibliothek über Esel zu finden war, und das war einiges mehr, als nun in diesen Band passt. Eine umfangreiche Auswahl zum Thema des Esels in der Literatur, in der Geschichte, Religion und Medizin lag schließlich vor. Goltzsche schickte Hunderte gemalter und gezeichneter Esel. Dann starb Ingeborg Baier-Fraenger 1994 und auch das Esel-Projekt schien vergessen.

Aber Dieter Goltzsche, der inzwischen siebundachtzigjährige Großmeister der kleinen zeichnerischen Form, der einst bei Hans Theo Richter und Max Schwimmer studiert hatte, hörte nicht auf, Esel zu zeichnen, das Erhaben-Störrische dieser vorbildlichen Tiere hatte es ihm angetan. Er schickte die Zeichnungen an Christof Baier, der diesen schön gestalteten Band nun herausgegeben hat.

Text trifft Bild, das ist immer eine Unruhe stiftende Konstellation. Denn der Widerspruch zwischen beiden Darstellungsformen scheint nicht auflösbar. Darin aber liegt gerade der Reiz ihres Zusammentreffens. Goltzsche ist vermutlich der belesenste unter den bildenden Künstlern hierzulande. Hunderte Bücher quer durch die Weltliteratur hat er illustriert, aber wenn man das Wort Illustration ausspricht, dann zeigt der freundlich-distinguierte Goltzsche schon mal einen Anflug von Unfreundlichkeit. Denn er bebildert nicht Texte, er begibt sich in seinen Bildern in Dialog mit diesen. Max Klinger hatte die Unbeziehung einst sehr drastisch so formuliert: »An und für sich finde ich das Zusammentreffen von Buchstaben und Bildern ganz übel.«

Ist der Esel eigentlich ein »dämonisches Tier«, wie es im »Wörterbuch des deutschen Aberglaubens« von 1929 zu lesen ist: »Auf Eseln reiten die Hexen zu Tanze …«? Darüber kann man hier einiges nachlesen, wie auch über den »Esel als Orakeltier«. Es folgen Esel-Gedichte von Matthias Claudius bis Francis Jammes, Fabelhaftes von Äsop, Hans Sachs und Rabelais, Epigrammatisches von Lichtenberg und Hebel. Natürlich darf Shakespeares »Sommernachtstraum« nicht fehlen, in dem der Liebeskranke einem Esel gleicht. Vom »Eselskuss« ist die Rede, ein Stück magischer Medizin des Mittelalters: »Das Zahnweh vertreibt man, wenn man einen Esel küsst.«

Für Dieter Goltzsche wird der Esel immer wieder zum Initiator eigener Einfallslust. Auf ihn kann man alles projizieren, was man gerade in sich trägt, aber nicht gern ohne einen Boten in die Welt schickt, dem der Ruf eines Narren vorauseilt. Der Esel ist das ideale Gegenüber, wie ein Jahrmarkt-Spiegel, dessen Verzerrungen eigene Möglichkeiten vorführen. Eine komische Figur? Gewiss, aber mit der Würde eines Esels, der sich autonom zu halten versteht und also gar nicht das ist, was wir umgangssprachlich meinen, wenn wir jemanden einen Esel nennen.

Von William Faulkner ist ein Text in »Eseleien« präsent, der den Esel zum zweitklügsten Tier wählt. Platz eins gehört der Ratte, die sich ganz auf Kosten des Menschen schadlos zu halten versteht, auf Platz drei die Katze, die »keine Pfote für uns hebt«, aber es sich gern bei uns gut gehen lässt – dazwischen steht der Esel, »viel zu intelligent, um sich einzig der Ehre willen das Herz zu brechen«.

Faulkner ist dann der gegenwärtigste der hier versammelten Autoren, was mit dem historischen Charakter der von Ingeborg Baier-Fraenger genutzten Hausbibliothek in Potsdam-Babelsberg zu tun haben muss. Aber das ist kein Mangel, jedenfalls kein schwerwiegender. Denn eine Auswahl, zumal, wenn sie ein von bösem Witz nur so sprühender Geist wie der Goltzsches mit seinen Bildern begleitet, will weder vollständig sein noch bündige Botschaften verbreiten. Das Fragmentarische kommt der Eselspersönlichkeit sehr nahe. Jeder Leser also ist aufgefordert, seine eigene Eselsgeschichte hinzuzudenken. Mir fällt sofort »Die Lust des Esels« von Elias Canetti in »Die Stimmen von Marrakesch« ein. Darin beobachtet der Autor einen übel misshandelten Esel auf dem Markplatz: »Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, aber es war nicht mehr derselbe Esel. Denn zwischen seinen Hinterbeinen, schräg nach vorn, hing ihm plötzlich ein ungeheures Glied hervor. Es war stärker als der Stock, mit dem man ihn nachts zuvor bedroht hatte.«

Christof Baier (Hg.), Eseleien, Dieter Goltzsche und Ingeborg Baier-Fraenger im Dialog über Esel, Quintus Verlag, 255 S., brosch., 30 €

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