Nicht die Mama?

Mit »Mother Tongue« versucht sich das Maxim-Gorki-Theater Berlin an einer »Enzyklopädie der Reproduktion im 21. Jahrhundert« – und bleibt dabei politisch unambitioniert

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 4 Min.
In "Mother Tongue" geht es im Viertelstundentakt mal um diverse Elternschaft, Geburt oder Care-Arbeit.
In "Mother Tongue" geht es im Viertelstundentakt mal um diverse Elternschaft, Geburt oder Care-Arbeit.

Hoch über dem Publikum, auf der Galerie, setzt die trans Person Kay Garnellen zum Striptease an. Erst fällt die Oberbekleidung, dann knöpft Garnellen die Unterhose auf, präsentiert das Gesäß, reibt den Slip am Unterleib entlang, dreht sich um, zum finalen Höhepunkt, entledigt sich auch des Slips und – nun: Nichts! Das Geländer der Galerie versperrt die Sicht auf das Geschlechtsteil. Was auch immer hier zu sehen sein könnte, was präsentiert sein wollte in einem Akt offensiver Selbstermächtigung, es bleibt – zumindest von der zehnten Reihe aus gesehen – verdeckt durch eine Sicherheitsmaßnahme. Und damit ist die Szene charakteristisch für diese Inszenierung am Berliner Maxim-Gorki-Theater.

Man kann den Striptease als epistemologische Übung verstehen, als Versuch, den Drang nach Erkenntnis zu untersuchen, jene Kraft, die – gleich dem Geschlechtstrieb – dem Menschen innewohnt und die seine Gattung zum Herren der Schöpfung beförderte. Das Begehren, etwas herauszufinden, über das bereits Bekannte hinauszugehen, seinen Geist zu beflügeln, scheint dem Menschen ebenso zueigen zu sein wie das Interesse an einem Mitmenschen, der sich im Sichtfeld sexuell exponiert.

Jedoch lernt man erstaunlich wenig an diesem Abend, weder über sich selbst noch über das Thema. »Mother Tongue« ist eher Infotainment als Aufklärung. Dabei hatte die argentinische Autorin und Regisseurin Lola Arias eine »Enzyklopädie der Reproduktion im 21. Jahrhundert« angekündigt. Das Bühnenbild ahmt eine Mischung aus Bibliothek, Archiv und Naturkundemuseum nach. In den Regalen verstauben Bücher, Reagenzen und ausgestopfte Tiere. Darüber kündigen projizierte Überschriften ein neues Thema an. Es geht im Viertelstundentakt mal um diverse Elternschaft, Geburt oder Care-Arbeit.

Diese Berliner ist bereits die dritte Version des Projekts. Zuvor kam »Mother Tongue« bereits in Bologna und Madrid heraus. Arias hat sich Performer*innen zusammengesucht, die thematisch aus ihren eigenen Biografien schöpfen können. Der homosexuelle Schauspieler Ufuk Tan Altunkaya berichtet von seiner Suche nach einer geeigneten Mutter für sein Kind – in einer Konstellation, die sich Co-Parenthood nennt, in der also mehrere Personen für ein Kind sorgen. In einer amüsanten Szene trifft er mit seinem Partner auf eine sehr woke, aber biedere Psychologin, die schließlich bereit ist, sich sein Sperma mit einer Spritze zu injizieren.

Auch Millay Hyatt möchte mit ihrem Mann schwanger werden, es klappt aber nicht, woraufhin sie über viele Jahre versucht, als Pflegemutter anerkannt zu werden. Als ihr endlich ein Kind angeboten wird, überlegt es sich die leibliche Mutter ein paar Wochen darauf anders. Letztlich finden die beiden ihr Elternglück in einem 13-jährigen Jungen. Aber als Hyatt und ihr Mann sich später scheiden lassen möchten, erklärt ihnen das Amt, sie könnten nun nicht mehr gemeinsam die Pflege für ihn übernehmen.

Es geht ohnehin viel um bürokratische Hürden, an einer Stelle werfen die Performer*innen Papierzettel in die Luft. Das erinnert, wohl auch wegen des Bühnenbilds, an Kafka, der nicht nur eine Parabel mit dem Titel »Auf der Galerie« hinterließ, sondern auch wie kein anderer das Leben unter der Herrschaft der Bürokratie beschrieb. Doch wenn Kafka in existenzielle Tiefen vorstößt, gibt sich das Ensemble mit der Klage zufrieden. Die Bürokratie ist hier einfach nur eine störende Macht, gegen die sich das Ensemble mit dem Publikum verbündet.

Auch Sandra Ruffin will ein Kind, was in ihrem Fall jedoch eine jahrelange Tortur erfordert: ständiger Stress, eine strenge Diät, Aufgabe des persönlichen Lebensstils, Hormonspritzen, künstliche Befruchtung. Am Ende eines rasanten Monologs faucht sie dem Publikum entgegen, eigentlich müsse sie heute in der Kinderwunschklinik sein. »Aber ich spiele, für euch!« Man kennt diese Verfahren allzu gut aus dem Gorki: das direkte Adressieren des Publikums, das Gemeinmachen, das Reklamieren von Authentizität. Die Identität der Performer*innen mit ihren Rollen wird über private Fotos, von Dokumenten (auf denen ungeschwärzt auch die Namen der Sachbearbeiter erscheinen) und sogar Videos ihrer Kinder hergestellt. Es ist ganz wichtig in diesem Theater, dass alles, was auf der Bühne gesagt wird, auch der Wahrheit entspricht. Die Wirklichkeit, in der es, aus welchen schlechten oder nachvollziehbaren Gründen auch immer, widerstrebende Ansichten darüber gibt, ob zum Beispiel ein Kind mehrere Väter haben kann, rückt dagegen in den Hintergrund. Das Amt, die Anatomie oder die Spermienqualität sind die eigentlichen Feinde, sie sorgen nur für Ärger. Politisch ist der Abend somit erstaunlich unambitioniert, vielleicht geht sein Plan gerade deswegen so gut auf, vielleicht erhebt sich deshalb ein Großteil des Publikums zu stehenden Ovationen: weil diese Produktion einem so wenig abverlangt.

Nächste Vorstellungen: 18., 19.9. und 26.10.
www.gorki.de

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