Wie vom anderen Stern

Kaum wagt man zu atmen, so grandios ist das: Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst und das LSO unter Simon Rattle beim Musikfest Berlin

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 7 Min.
Welch ein fantastisches Orchester! Franz Welser-Möst dirigiert The Cleveland Orchestra. Wie grandios sie Schubert geben, das wird einem noch lange im Kopf rumspuken, jede Wette!
Welch ein fantastisches Orchester! Franz Welser-Möst dirigiert The Cleveland Orchestra. Wie grandios sie Schubert geben, das wird einem noch lange im Kopf rumspuken, jede Wette!

Welch ein fantastisches Orchester! Dabei war das Programm, mit dem das Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst beim Musikfest Berlin gastierte, fast ein wenig bieder – Wolfgang Rihms »Verwandlungen 3« und »2« (lieber hätte man Alban Bergs »Lyrische Suite« gehört, die das Orchester in Hamburg gespielt hat) sowie Franz Schuberts »Große C-Dur-Sinfonie D 944«. Was für ein Glanz, den dieses Orchester immer noch und immer wieder ausstrahlt und welche Transparenz! Selten hat man Schuberts Sinfonie so transparent gehört, alle Stimmen wie bei einer Bach-Fuge hervorgehoben und gleichzeitig als Teil von etwas Größerem, Magischem.

Wie viele kompositorische Details waren da plötzlich zu hören und zu verstehen – etwa die Gegenströmungen, mit denen die schier endlosen Schubertschen Themen in den Streichern bearbeitet werden. Die Blechbläser! Die Oboe wie von einem anderen Stern! Wie Welser-Möst die ländlerhaften Szenen geradezu »weanerisch« auskostet, das Orchester dann aber im zweiten Satz furios auf den katastrophischen Höhepunkt zusteuert und die folgende Generalpause schier endlos ausweitet – man wagt kaum zu atmen. Eine grandiose, eine einzigartige Interpretation, die denen, die sie erleben durften, noch lange im Kopf herumspuken wird.

Natürlich muss man hier auch über Perfektion sprechen – aber »perfekt« spielen können ja viele. Das Cleveland Orchestra verbindet sein außerordentliches Können mit unbändiger Lust am Spiel, mit umwerfender Lässigkeit, mit einem Klangsinn, der die besten beider orchestralen Welten, also den amerikanischen Sound und den Wiener oder Berliner Ton aufs Feinste und Raffinierteste verbindet.

Das Cleveland Orchestra hat eine große Tradition. George Szell, der 1924 im Alter von 27 Jahren an der Staatsoper Berlin von deren Musikdirektor Erich Kleiber zum Ersten Dirigenten ernannt wurde und ab 1929 acht Jahre als gefeierter Chefdirigent am Neuen Deutschen Theater in Prag wirkte, ehe er vor dem NS-Regime in die USA fliehen musste, formte dieses Orchester ab 1946 zu einem »von ihm geschliffenen Juwel«, wie Dietrich Fischer-Dieskau anmerkte. Seit über zwanzig Jahren ist nun Franz Welser-Möst Musikdirektor dieses legendären Klangkörpers, und es ist seiner Arbeit zu verdanken, dass das Cleveland Orchestra nicht mehr nur für seine Intonation und sein perfektes Zusammenspiel bekannt ist, sondern eben auch für seine Spielfreude. Eines der besten Orchester der Welt hat seine Visitenkarte in Berlin abgegeben – in der gerade einmal halb gefüllten Philharmonie (was war da los, Berliners?).

Doch das Cleveland Orchestra ist nicht nur ein faszinierendes Orchester, sondern setzt auch Maßstäbe, was die Entwicklung neuer Besucher*innen-Schichten angeht: Mit einer innovativen Programmgestaltung und partizipativen Modellen, zum Beispiel digitalen Projekten (Online-Konzertübertragungen, Podcasts »On A Personal Note«), vor allem aber auch mit einer lebensnahen Eintrittspreisstruktur hat das Orchester eine deutliche Verjüngung seines Publikums erreicht und neue Zuhörer*innen aus ursprünglich nicht klassikaffinen Schichten gewinnen können. Weg vom klassischen Abonnement, stattdessen eine, schreckliches Wort, Klassik-»Flatrate«: Gerade einmal 35 Dollar zahlen und eine ganze Saison lang ins Konzert gehen können, wann immer und so oft man will (und Freund*innen können für 15 Dollar mitgebracht werden – »Bring a Friend«), das ist eines der Erfolgsmodelle des Orchesters, mit denen junge Menschen für die Konzerte in Cleveland begeistert werden.

Ein Modell, das gerade auch in Post-Corona-Zeiten, da die Konzertsäle (und Theater und Opernhäuser) vielerorts häufig halb leer bleiben, nicht nur zur Nachahmung einlädt, sondern geradezu danach schreit. Es kommt eben nicht darauf an, dass die Philharmonien bei immergleichen Konzerten mit dem immergleichen Publikum ausverkauft sind, sondern dass auch junge Menschen diese Konzerte besuchen und dass das Publikum eine ähnliche Breite der Gesellschaft abbildet wie diejenigen, die die Konzerthäuser und die dort auftretenden Ensembles mit ihren Steuern finanzieren.

Auch das London Symphony Orchestra (LSO), das tags zuvor in der Philharmonie gastierte, vertritt die Überzeugung, dass außergewöhnliche Musik für alle überall zugänglich sein sollte. Mit einem umfangreichen Programm von Live-Stream- und On-Demand-Online-Übertragungen sowie durch ein weltweit beispielgebendes Lern- und Community-Programm, das »LSO Discover«, bringt das LSO Menschen aus allen Gesellschaftsschichten mit Musik in Kontakt: Die Musiker*innen leiten Workshops, betreuen junge Talente, treten bei kostenlosen Konzerten für die örtliche Gemeinde auf oder nutzen Musik, um Erwachsene mit Lernschwierigkeiten zu unterstützen, sie besuchen Kinderkrankenhäuser und leiten Ausbildungsprogramme für Musiklehrer*innen – sie tun alles dafür, ihre Musik auch mit Menschen zu teilen, die diese normalerweise nicht erleben.

Zum Musikfest Berlin brachte das LSO mit seinem Musikdirektor Simon Rattle fünf Werke mit, die auf den ersten Blick wie ein bunter Strauß gefälliger Musik anmuteten. Doch die Zusammenstellung mit drei Werken, die in den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, zwischen 1918 und 1924, entstanden, bewies eine kluge Programmgestaltung. Als Auftakt die mit ihren aberwitzigen Streicherläufen, dem Kontrabassgewitter und scharfen Pizzicati eigentlich nahezu unspielbare Ouvertüre »Le Corsaire« von Hector Berlioz, ein brillantes romantisches Prunkstück zwischen Abenteuer und Weltschmerz. Berlioz will Lord Byrons »The Corsair« über den »misanthropischen Piratenanführer, der der ganzen Welt den Krieg erklärt hat und nur seiner Frau in Liebe ergeben ist« (Harald Hodeige im Programmheft), im Beichtstuhl des Petersdoms gelesen haben …

Daniel Kidanes »Sun Poem« (2022) als deutsche Erstaufführung plätschert ein wenig am Publikum vorbei – ein großes Medley an Klängen, sicher, aber es kommt nicht an das antirassistische »Woke« (2019) heran, das man gerne einmal in Berliner Konzertsälen erleben würde. Ein teuflisch gelungener Tanz auf dem Vulkan dagegen Ravels »La Valse«, mit dem alte Gewissheiten zerstört werden – die Welt ein Pulverfass, die alte k. u. k.-Walzer-Wohlfühloase weicht Lärm und Barbarei, die Apokalypse des Ersten Weltkriegs wird heraufbeschworen.

»La Valse«, das ist Kulminationspunkt und Apotheose des Wiener Walzers zugleich, ein »tödliches Wirbeln«, wie Ravel selbst meinte. Dabei gehe es um »Taumel, Benommenheit, Schwindel und Sinnlichkeit«, alles zu einem regelrechten »Anfall gesteigert«. Ein »danse macabre« also, eine Dekonstruktion, der »Tod der Walzer«, wie Adorno vermerkte. Ravels »La Valse« deutet die Herrlichkeit, noch mehr aber die Dekadenz einer vergangenen Ära an – eine verrottete Gesellschaft tanzt, sich selber feiernd, am Abgrund. Die Akzente verrutschen, die Klangfarben mutieren, Dissonanzen schleichen sich ein, der Jazz des 20. Jahrhunderts verdrängt den Walzer vergangener Herrscherzeiten und zwei Intervalle übernehmen die Hauptrolle: der satanische Tritonus und die Quart. Die Welt am Abgrund – gut hundert Jahre später ist dieses Gefühl leider bekannt.

Zur selben Zeit ist die »Siebte Sinfonie« op. 115 von Jean Sibelius entstanden – doch während bei Ravel die neuen Zeiten, die wilden Zwanziger, das Kommando übernehmen und alles zu einer grandiosen, diabolischen Ekstase gesteigert wird, bedient sich Sibelius der musikalischen Mittel des 19. Jahrhunderts. Und Béla Bartók wiederum entwarf, wie Sibelius zwischen 1918 und 1924, ein Stück moderner Musik, das die Barbarei der modernen Gesellschaft, die »Widerlichkeit der (vermeintlich!) zivilisierten Welt« zeigt: Die Konzertsuite »Der wunderbare Mandarin« op. 19 entstand nach der gleichnamigen Ballettpantomime, die 1926 an der Kölner Oper uraufgeführt – und vom Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (ja, genau, dem späteren Bundeskanzler) nach Protesten von Publikum und deutschnationaler Provinzpresse sofort wieder vom Spielplan genommen wurde. Die Kathedrale des Bürgertums, das Opernhaus, sei durch die »widerliche Handlung« und »durch ein gelinde gesagt minderwertiges Werk entweiht« worden, so seinerzeit der »Kölner Stadt-Anzeiger«.

Adenauers Zensurmaßnahme, der eigentliche Skandal also, zeigte langfristige Wirkung: Zu Bartóks Lebzeiten wurde das Werk mit einer Ausnahme (1927 in Prag) in Europa nicht mehr aufgeführt, und bis heute ist »Der wunderbare Mandarin«, das der Komponist zu seinen besten Werken zählte, nur selten in den Konzertprogrammen zu finden, während die andere (und im Grunde viel »bravere«) Skandal machende Ballettmusik, Strawinskys »Le sacre du printemps«, längst zum »Kanon« gehört.

Was dem Publikum da entgeht, zeigte die bravouröse Aufführung durch Simon Rattle und das LSO: Eine atemberaubende Explosion von klanglicher Dynamik und musikalischer Energie. Abenteuerliche Zweiunddreißigstel-Septolen in den Violinen stürzen auf und ab, schrille Posaunenglissandi, schneidende Dissonanzen, und die Schlagwerker haben alle Hände voll zu tun, um die treibenden Rhythmen zu entfesseln. Zwischendrin drei Verführungsszenen mit anrührenden, reich verzierten Klarinettensoli. Ganz großes Kino! Und in der Tat stammt das »Drehbuch« ja vom ungarischen Dramatiker Menyhért Lengyel, der später im amerikanischen Exil einige Berühmtheit als Drehbuchautor einiger Filme von Ernst Lubitsch erlangte, darunter »Ninotschka« (1939).

Zu schade, dass die Videos der Konzerte des Musikfests Berlin immer nur wenige Tage in der Mediathek der Berliner Festspiele zu sehen sind – der Breitenwirkung und dem Bildungsanspruch des Festivals würde es sicher nützen, wenn die Aufführungen noch länger nachgesehen werden könnten. Jedenfalls darf das Publikum gespannt sein auf die letzte Woche des Musikfests mit Auftritten von drei Berliner Orchestern. Es gibt noch Karten …

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