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  • Soziale Stadtentwicklung

Molkenmarkt am Scheideweg

Bausenator will Abgeordnetenhaus nicht über Charta zur Zukunft entscheiden lassen

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 6 Min.

Diesen Mittwoch wird Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt (parteilos, für SPD) bekanntgeben, nach welchem Entwurf der Molkenmarkt als Wohn- und Kulturquartier wieder aufgebaut werden soll. Am Dienstag beriet eine von der Stadtentwicklungsverwaltung eingesetzte Jury darüber. Sie fällt eine Richtungsentscheidung, wie Berlin einen der ältesten Orte der Stadt in Zukunft haben will: eher historisierend und teuer in der Errichtung, in Anlehnung an die Nachbauprojekte von Altstadtquartieren der letzten Jahrzehnte, wie in Frankfurt am Main oder Potsdam, oder zukunftsorientiert mit äußert flexibel nutzbaren Bauten, einem hohen Anteil an Sozialwohnungen und durchdachten Lösungen für eine Welt in der Klimakrise.

Der von der Jury gekürte Siegerentwurf soll wiederum Basis sein für eine zu verabschiedende »Charta Molkenmarkt«. Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) will sich bei deren Erarbeitung jedoch nicht vom Abgeordnetenhaus hineinreden lassen. Es habe sich kein Vorgang finden lassen, in dem seine Verwaltung eine Beteiligung zugesichert habe, erklärte der Senator am Montag in der Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses. Er lehne das auch ab, so Geisel.

Offenbar hatte Geisel nicht besonders gründlich suchen lassen. »Wir werden Teams auswählen, mit diesen Teams dann auch im nächsten Jahr in einen großen öffentlichen Dialog eintreten, und wir werden Ergebnisse dann im nächsten Jahr dem neuen Abgeordnetenhaus vorlegen«, sagte Manfred Kühne, Leiter der Abteilung Hochbau der Stadtentwicklungsverwaltung, am 8. Oktober 2021 bei einem Wissenschaftlichen Kolloquium der Historischen Kommission zum Molkenmarkt. »Das Abgeordnetenhaus soll eine Charta für den Molkenmarkt beschließen, für das Quartier, in dem die Qualitätskriterien festgelegt werden«, sagte Kühne weiter, wie ein bis heute auf Youtube verfügbarer Mitschnitt belegt.

Am späten Montagnachmittag bis in den Abend hinein präsentierten die zwei Planungsteams bei einem per Youtube übertragenen sogenannten Bürgerabend zunächst ihre überarbeiteten Entwürfe zum Molkenmarkt. Denn Ende 2021 sind in einer ersten Juryentscheidung aus den zahlreichen eingereichten Vorschlägen zwei erste Plätze ausgewählt worden: einerseits der konservative unter Federführung des zwischenzeitlich verstorbenen Architekten Bernd Albers und seiner Kollegin Silvia Malcovati. Andererseits der progressive Entwurf der Planungsgemeinschaft OSCKA von OS Arkitekter aus Dänemark und der Berliner Czyborra Klingbeil Architekturwerkstatt. Doch bei beiden Konzepten gab es Nachbesserungsbedarf.

Zunächst war Silvia Malcovati am Zug, um die Korrekturen an ihrem Entwurf vorzustellen. »Es geht keineswegs darum, eine historische Phase der Stadt zu rekonstruieren, es geht auch nicht darum, die Parzellenstruktur der Vorkriegszeit wieder herzustellen«, verteidigte sie ihren Entwurf zunächst grundsätzlich. Denn vor allem dieser hatte viel Kritik auf sich gezogen.

Bloß, weil man auf die Historie des Viertels Bezug nehme, »heißt das nicht, dass man die Stadt von vorgestern bauen muss«, sagte Theresa Keilhacker, Präsidentin der Berliner Architektenkammer, bei einer Veranstaltung im Mai. Auch die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte kritisierte den Entwurf. Zusammen mit der ebenfalls kommunalen Degewo soll sie auf den durch die Verkleinerung des autobahnartigen Straßennetzes gewonnenen Flächen rund 400 Wohnungen errichten.

Ablehnung hagelte es auch von Kulturschaffenden, denn neben Wohnungen sollen dort auch Flächen für Kunst und Kultur entstehen. Zu wenig flexibel, zu teuer, zu wenig klar das sogenannte kulturelle Band, das Orte wie das Haus der Statistik, die Alte Münze und das Nikolaiviertel verbinden soll.

Nicht zuletzt sprachen sich auch alle stadtentwicklungspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Koalitionsfraktionen, Mathias Schulz (SPD), Julian Schwarze (Grüne) und Katalin Gennburg (Linke), in Gesprächen mit »nd« gegen den Entwurf aus. Die Befürchtung: Werden die Baukosten durch sehr kleinteilige Strukturen nach oben getrieben, wird das einen extremen Privatisierungsdruck ausüben, da die Landeseigenen so wirtschaftlich nicht in der Lage sein werden, zu ihren Vorgaben zu bauen.

Malcovati hat auf die Kritik reagiert. Man habe die »Aufmerksamkeit auf Flexibilität und Bezahlbarkeit« gelegt, sagte sie am Montag. Statt schmaler Townhouses mit jeweils einem Treppenhaus pro Einheit setze man nun auf eine zentrale Erschließung. Durch unterschiedliche Fassadengestaltung soll nach außen hin jedoch der Eindruck der Kleinteiligkeit erzeugt werden. Für den historisierenden Touch schlägt das Planungsteam auch die Verwendung roter Dachziegel für einen Teil der Gebäude vor.

Ephraim Gothe, dem SPD-Baustadtrat von Mitte, scheint die Änderung nicht zu schmecken. »Sie haben den Städtebau auf Effizienz getrimmt. Im Koalitionsvertrag steht drin: Architektur soll kleinteilig und in hoher Qualität ausgeführt werden«, merkte er an.

Auch Bürgerinnen und Bürger konnten mit nur 280 Zeichen umfassenden Textnachrichten kommentieren. Die Kritik fiel weitgehend vernichtend aus. »Was für ein unglaublicher Rollback der Ewiggestrigen«, hieß es da beispielsweise. Oder: »Aussagen zu ökologischen Themen fallen sehr dürftig aus.« In der extremen Minderheit waren Einschätzungen, wie, dass es sich um ein »sehr schlüssiges Gesamtkonzept« handele. »Die Überarbeitung wirkte wie ein bisschen Herumdokterei, um die Kritik zu entkräften. Der Entwurf ist dadurch noch unstimmiger geworden«, urteilte auch Grünen-Stadtentwicklungspolitiker Julian Schwarze gegenüber »nd«.

»Echte Nachhaltigkeit beginnt bereits in der Planungsphase«, sagte Architekt Marek Czyborra vom Team OSCKA. Hier gebe es »die Chance, einen CO2-positiven Stadtteil zu bauen«, erläuterte er. Die Gebäude sollen in Skelettbauweise erstellt werden, möglichst aus Holz, aber auch Beton wäre möglich. Das führt zu größtmöglicher Flexibilität bei der Aufteilung der Innenräume nicht nur bis zur Fertigstellung, sondern auch bei später geänderten Bedürfnissen. Um eine möglichst vielfältige Anmutung zu erzeugen, plädiert Czyborra für die Möglichkeit, zurückgesetzte Staffelgeschosse zu bauen, wie es das übliche Konzept der in Berlin bei 22 Meter liegenden Traufhöhe ermöglicht. Für den Molkenmarkt ist allerdings bisher eine sogenannte Gebäudeoberkante definiert, über die kein Haus hinausragen darf.

»Alle Wohnungen entsprechen den Richtlinien für geförderten Wohnungsbau«, erklärte Czyborra zu seinem Entwurf. Damit wäre auch eine Quote von 100 Prozent Sozialwohnungen möglich, wie sie unter anderem die Linke-Politikerin Gennburg fordert. Architekt Czyborra wandte sich auch deutlich gegen den Abriss des derzeit als Atelierhaus genutzten Gebäudes Klosterstraße 44 aus, das 1968 als Telefonverstärkerstelle errichtet wurde. Das Haus solle erhalten und zu Wohnraum umgenutzt werden.

»Es ist wieder sichtbar, wie deutlich der Vorsprung beim Entwurf von OSCKA ist in Bezug auf Baustoffe, Nachhaltigkeit und die soziale Wohnraumfrage«, sagte Grünen-Politiker Julian Schwarze zu »nd«. »Es ist ein ganzheitlicher Ansatz erkennbar, der auf die Fragen der Zeit reagiert«, so sein Urteil.

»Beim Streit um die Bebauung am Molkenmarkt geht es nicht allein um ästhetische Spitzfindigkeiten oder baukulturelle Fragen«, unterstreicht die Linke-Politikerin Gennburg. »Der SPD-Bausenator kann sich eben nicht mit Verweis auf scheinbar abstrakte Architekturdiskurse rausreden. Nein, es geht ganz klar um eine politische Entscheidung für eine bezahlbare und klimaresiliente Bebauung im Herzen der Stadt und zwar als Gegenentwurf zur feudalistischen Schlossarchitektur auf der anderen Seite der Spree«, so die Stadtentwicklungsexpertin weiter zu »nd«. Dazu müssten »alle Fachpolitiker*innen jetzt Stellung beziehen«.

Julian Schwarze von den Grünen tut das: »Es geht um die Frage, was für einen Städtebau Berlin im Zentrum der Stadt umsetzen will. Ob wir die Stadt von gestern oder die Stadt von morgen gestalten.«

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