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Charkiw ist befreit, die Gewalt geht weiter

Die Kämpfe in der Ukraine werden intensiver, Moskau schickt Häftlinge statt Soldaten an die Front

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 6 Min.

An pathetischen Worten mangelte es Wolodymyr Selenskyj nicht, als er am Mittwoch in Isjum eintraf, um die Kreisstadt in der Region Charkiw nach der Rückeroberung von den Russen zu besuchen. »Wenn wir früher nach oben geschaut haben, haben wir den blauen Himmel gesucht. Heute suchen wir nur eines, wenn wir nach oben schauen – die Flagge der Ukraine«, sagte der ukrainische Präsident zu den anwesenden Soldat*innen und Journalist*innen. »Unsere blau-gelbe Flagge weht schon über dem befreiten Isjum. Und so wird es in jeder ukrainischen Stadt und in jedem Dorf sein. Wir bewegen uns nur in eine Richtung – vorwärts und gen Sieg«, so Selenskyj weiter.

Isjum ist einer der 388 Orte bei Charkiw, die ukrainische Streitkräfte nach Angaben der stellvertretenden Verteidigungsministerin Hanna Maljar zwischen dem 6. und 14. September zurückerobert haben. Eine Fläche von 8500 Quadratkilometer mit 150 000 Einwohnern steht nun wieder unter der Kontrolle Kiews. Dabei wollten die russischen Besatzer das hart umkämpfte Gebiet in ihr eigenes Territorium eingliedern. Die Russen haben gesagt, sie seien nun für immer hier. Kurz darauf begann der Beschuss und sie zogen ab, berichten Menschen, die vor den Gefechten nach Russland geflohen sind.

Die Gewaltspirale dreht sich schneller

Die schnelle Einnahme großer Gebiete, die russische Truppen monatelang besetzt hielten, hat im Westen für Erstaunen und Jubelstürme gesorgt. Analyst*innen, Kommentator*innen und Journalist*innen werden nicht müde, vom »Wendepunkt« und dem nahen Kriegsende zu sprechen und zu schreiben. Der Blick auf die Karte verdeutlicht jedoch, dass Russland immer noch große Gebiete im Osten und Süden der Ukraine besetzt hält. Von einem »Kollaps der Front« will Alexey Yusupov deshalb auch nichts wissen. Auf Facebook nennt der Russland-Experte der Friedrich-Ebert-Stiftung die Befreiung bei Charkiw eine Mischung aus aktiver Eroberung durch die ukrainische Armee, Räumung durch russische Streitkräfte und einem stellenweise unorganisierten, panikartigen Rückzug der russischen Truppen.

Ob die ukrainische Armee jetzt wirklich, wie von Selenskyj versprochen, nach vorne marschiert und Ort für Ort befreit, bleibt abzuwarten. Jegliche Wendepunkt-Rhetorik ist momentan spekulativ. Bereits mehrfach glaubte man, die Russen endgültig besiegt zu haben, sei es nach dem Rückzug aus den Kiewer Vororten oder im Mai ebenfalls bei Charkiw. Jetzt aber haben die russischen Soldaten den Ukrainern dermaßen viele Waffen überlassen, dass diese auch ohne westliche Lieferungen monatelang damit kämpfen können.

Für Russland wird die Lage militärisch und moralisch immer dünner. In den Tagen nach der Befreiung kamen erste Berichte über Foltergefängnisse rund um Charkiw auf. Am Donnerstag wurde zudem Gräber im Wald entdeckt, in dem sich nach ukrainischen Angaben 440 Leichen befinden sollen. Wer dort begraben liegt und wie die Menschen umgekommen sind, ist noch nicht klar. Allerdings handelt es sich um Einzelgräber. »Hier wurden die Menschen, sagen wir mal, zivilisierter beigesetzt«, sagte Oleg Kotenko, Beauftragter für Vermisstenfragen unter besonderen Umständen, dem TV-Sender Nastojaschtschee Wremja in der Nacht zum Freitag. Die Nachricht über die Entdeckung der Gräber hatte Befürchtungen aufkommen lassen, dass es bei Isjum zu ähnlichen Gräueltaten wie in Butscha kam.

Die jüngsten Erfolge der ukrainischen Streitkräfte haben die Gewaltspirale spürbar angekurbelt. Seit Tagen beschießt die russische Armee mit Raketen die Infrastruktur im ukrainischen Hinterland. Zeitgleich melden die selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, dass es dieses Mal »ernst ist«. Am Freitag kam in Luhansk der Generalstaatsanwaltschaft der Republik bei einem Raketenangriff ums Leben, in Berdjansk wurde ein Vizebürgermeister getötet. Und auch in Russland spüren die Menschen den Krieg immer stärker. Seit Tagen beschießt die ukrainische Armee Städte und Dörfer in der Region Belgorod an der Grenze. Dabei seien auch Menschen ums Leben gekommen, berichtet der Gouverneur der Region, Wjatscheslaw Gladkow. Seit Monaten gibt es immer wieder Berichte über ukrainischen Beschuss in den Gebieten Belgorod und Kursk, unabhängig überprüfen lassen sie sich nicht. Am Freitag wurde bekannt, dass russische Wehrdienstleistende zur Grenzsicherung in die Region geschickt werden.

Kanonenfutter aus den Gefängnissen

Für die russische Armee wird es immer schwerer, die vom Kreml gesteckten Ziele zu erreichen. Wie viele Soldaten bereits für Wladimir Putins Großmachtphantasien starben, kann niemand genau sagen. Und die Kommandeure können ihre Einheiten kaum noch auffüllen. Nachrichten über Dienstverweigerer und Deserteure häufen sich. Viele junge Russen verstehen nicht, wofür sie verheizt werden sollen. Neues Kanonenfutter kommt unterdessen aus Russlands Gefängnissen. Wer sich meldet, bekommt neben Geld seine Freiheit. Seit Tagen kursiert in Russland ein Video, das den Chef der berüchtigten Privatarmee Wagner, Dmitrij Prigoschin, bei der Anwerbung von Gefangenen in der Wolga-Republik Mari El zeigen soll. Er suche nach Leuten, die in vorderster Front kämpfen, ruft Prigoschin den versammelten Gefangenen zu. »Ich nehme euch lebendig mit. Aber ich bring euch nicht immer lebendig nach Hause«, brüllt Prigoschin. Wer das halbe Jahr im Kriegsgebiet durchhalte, bekomme seine Freiheit. Für die Entscheidung habe man fünf Minuten, dann fahren er und seine Leute wieder, sagt der Geschäftsmann. Kämpfen dürfe aber nicht jeder, Drogenabhängige und Sexualstraftäter sollen zumindest eingehend überprüft werden.

Olga Romanowa bezweifelt, dass Prigoschin wirklich darauf schaue, wen er in die Ukraine schickt. Sie nehmen alle, sagt die Vorsitzende der NGO »Russland hinter Gittern«, auf Youtube. Mörder werden bevorzugt, auch Räuber seien gern gesehen. In Saratow sei aber auch ein Kannibale in die Wagner-Armee aufgenommen worden. Zwischen 7000 und 10 000 Strafgefangene seien mittlerweile für den Krieg angeworben worden, sagt Romanowa. Und Prigoschin scheint weitermachen zu wollen. Vom Radiosender der seriösen Wirtschaftszeitung »Kommersant« auf das Video angesprochen, entgegnete er nur: »Entweder privates Militärunternehmen und Häftlinge oder eure Kinder – entscheidet selbst«.

Die Kämpfe in der Ukraine gehen auch nach über 200 Tagen weiter. Dabei hätten sie bereits im März beendet werden können, behauptet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Demnach hatte der stellvertretende Leiter der russischen Präsidialverwaltung Dmitrij Kosak wenige Tage nach Kriegsbeginn eine Vereinbarung erreicht. Kiew war angeblich bereit, seine Nato-Ambitionen ruhen zu lassen. Putin habe aber abgelehnt, weil ihm die Eingeständnisse, die Kosak Kiew abgerungen hatte, nicht weit genug gingen. Statt den Krieg zu beenden, entschied Putin, die Ziele seiner »Sonderoperation« zu erweitern und ukrainische Gebiete an Russland anzuschließen.

Ist ein Frieden möglich?

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nannte den Bloomberg-Bericht realitätsfern. »So etwas hat es nicht gegeben. Das ist eine absolut unwahre Information«, so Peskow. Putin selbst behauptete, Kiew hätte Gespräche abgelehnt. Ob Selenskyj der Vereinbarung zugestimmt hätte, sei zumindest nicht sicher, muss Bloomberg eingestehen. Aktuelle Verhandlungen mit dem Kreml lehnt der ukrainische Präsident ab. Die Ukraine fordert Sicherheitsgarantien für die Zeit nach dem Krieg und hält stärker denn je am Nato-Beitritt fest. Denn Moskau, ist man in Kiew überzeugt, wird auch weiter ein Unsicherheitsfaktor für das Land bleiben.

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