»Wir fordern, das Blutvergießen zu stoppen«

Der russische Oppositionelle Ilja Jaschin sitzt seit 13 Wochen in einem Moskauer Gefängnis. Mundtot ist er noch lange nicht

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 9 Min.
Ilja Jaschin ist einer der bekanntesten russischen Oppositionellen von der Bewegung Solidarnost. Er kritisierte den russischen Angriffskrieg und wurde deshalb im Juni inhaftiert.
Ilja Jaschin ist einer der bekanntesten russischen Oppositionellen von der Bewegung Solidarnost. Er kritisierte den russischen Angriffskrieg und wurde deshalb im Juni inhaftiert.

Sie sind Kommunalpolitiker aus Moskau und in Russland bekannt für Ihre offene Kritik an Präsident Wladimir Putin. Heute sitzen Sie hinter Gittern. Was haben Sie falsch gemacht?

Interview

Ilja Walerjewitsch Jaschin ist ein russischer oppositioneller Politiker, der die Bewegung Solidarnost mitbegründet hat. Seit Oktober 2017 ist er Vorsitzender des Abgeordnetenrates des Moskauer Stadtteils Krasnoselski. Im Juni 2022 wurde Jashin verhaftet und erst zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt.
Als er sich nach der Freilassung für die Stadtratswahlen einschreiben wollte, wurde er erneut festgenommen, weil er sich über die Verbrechen von Butscha geäußert hatte. Über die Zustände in dem Gefängnis und die Lage in Russland tauschte er sich mit Benjamin Beutler aus. Das Interview wurde schriftlich geführt.

Gegen mich läuft ein Strafverfahren auf Grundlage »militärischer Zensur«, darum wurde ich verhaftet und bin seit fast drei Monaten in einem Moskauer Gefängnis. Mir wird vorgeworfen, mich öffentlich gegen die »Sonderoperation« auf dem Territorium der Ukraine ausgesprochen zu haben. Grund für die Festnahme war ein Bericht des britischen Fernsehsenders BBC über den Tod von Zivilisten in Butscha bei Kiew. Ich habe einen Ausschnitt dieses Berichts während eines Streams auf meinem Youtube-Kanal gezeigt. Weil die russische Regierung den Tod ukrainischer Zivilisten in Butcha als Inszenierung und Provokation westlicher Geheimdienste betrachtet, drohen mir zehn Jahre Gefängnis.

Sind Sie denn so gefährlich für die Mächtigen?

Offensichtlich soll mein Fall eine Demonstration sein. Damit schüchtern Behörden die Teile der russischen Gesellschaft ein, die mit Putins aggressiver Politik nicht einverstanden sind. Nach dem 24. Februar (Anm. d. Red.: russischer Überfall auf die Ukraine) finden wir uns in einer neuen Realität wieder, in der tatsächlich jeder Dissens, jede Kritik am Präsidenten und Oppositionsaktivitäten mit Extremismus, Verrat und Ächtung gleichgesetzt wird.

Seit Kriegsbeginn sind wegen »Diskreditierung der russischen Armee« und der »Verbreitung von Falschinformation über die russische Armee« schätzungsweise mehr als 16000 Menschen verhaftet worden, vielen drohen bis zu 15 Jahren Gefängnis.

Ich wurde zweifellos aus politischen Gründen verhaftet: Die Behörden versuchen nicht einmal, dies zu verbergen. Zuvor versuchten sie im Kreml noch, ihre Motive zu verschleiern und stellten die Opposition wegen wirtschaftlicher Anschuldigungen vor Gericht, sie wurden als Betrüger und gewöhnliche Kriminelle bezeichnet. Jetzt schämt sich Putin nicht mehr für politische Repressionen. Ganz nach dem Motto: »Wenn du gegen den Krieg agierst, dann bist du im Gefängnis willkommen.« Denken Sie einmal darüber nach: Wir sind nur eingesperrt, weil wir fordern, das Blutvergießen in einem Nachbarland zu stoppen. Absolut alle unabhängigen Medien sind in Russland geschlossen, verboten, gesperrt. Das staatliche Fernsehen ergießt jeden Tag Ströme des Hasses über die Gesellschaft. Und alle Versuche, gesunden Menschenverstand und Humanismus einzufordern, werden von den Sicherheitskräften mit glühendem Eisen ausgebrannt.

Können Sie Beispiele nennen?

Der Moskauer Stadtabgeordnete Aleksej Gorinow schlug bei einer Versammlung vor, eine Schweigeminute zum Gedenken an die ermordeten Ukrainer abzuhalten. Dafür wurde er zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Die Petersburger Künstlerin Aleksandra Skochilenko brachte in einem Supermarkt mehrere Antikriegsaufkleber an, sie sitzt seit sechs Monaten im Gefängnis. Ein Priester in einem der Dörfer der Region Kostroma forderte in einer Predigt das Ende der kriegerischen Feindseligkeiten, daraufhin verfolgte ihn die Polizei. Es gibt in ganz Russland Hunderte solcher Fälle. Ich weigere mich aber, mich als Opfer zu betrachten. Meine Regierung begeht ein Verbrechen, und ich versuche, mich dagegen zu wehren. Anders als ein Opfer habe ich nicht die Absicht, mein Schicksal demütig hinzunehmen und werde auch hinter Gittern meine Stimme gegen den Krieg zu erheben.

Wie ist das Leben in einem russischen Gefängnis?

Ich bin im Butyrka-Gefängnis, nicht weit vom Zentrum Moskaus entfernt. Das ist ein berüchtigter Ort. Russische Zaren schickten Aufständische hierher, zur Sowjetzeit saßen hier berühmte Vertreter der russischen Intelligenz, Dichter und Wissenschaftler ein. Man spürt hier wirklich die Verbindung zwischen Generationen von Freidenkern und Dissidenten durch ganze Jahrhunderte russischer Geschichte.

Die Regeln sind für ein russisches Gefängnis durchaus üblich: 6 Uhr aufstehen, 22 Uhr hinlegen. Sie geben uns dreimal am Tag Essen, duschen einmal pro Woche. Vormittags besteht die Möglichkeit zu einem Spaziergang im Gefängnisinnenhof. Dieser Hof sieht aus wie ein kleiner Betonbrunnen. Auf einer Seite gibt es eine Stange, um die körperliche Fitness irgendwie aufrechtzuerhalten. Es gibt ziemlich viel Freizeit. Die meiste Zeit verbringe ich damit, Bücher zu lesen, Texte und Briefe zu schreiben. Das Gefängnis ist natürlich nicht der angenehmste Ort. Aber es ist durchaus möglich, sich an das Leben hier anzupassen. Die Hauptsache ist, die innere Angst zu überwinden, die bei den meisten Russen seit Generationen tief sitzt.

Wie werden Sie von der Gefängnisverwaltung, wie von den Wärtern behandelt, wird ein Unterschied gemacht zwischen politischen Häftlingen und Kriminellen?

Überraschenderweise behandeln mich Verwaltung und Wärter sehr respektvoll. Von einfachen Polizisten hörte ich sogar Worte der Unterstützung. Ich war erstaunt, dass ein Oppositioneller Sympathie innerhalb des Machtsystems finden kann, das darauf ausgerichtet ist, abweichende Meinungen zu unterdrücken. Jeder versteht natürlich, dass ich ein politischer Gefangener bin, dass ich kein Verbrechen begangen habe. Aber ich bin im Gefängnis, und es gibt keine besondere Behandlung. Einerseits üben sie keinen besonderen psychischen Druck auf mich aus. Auf der anderen Seite machen sie aber auch keine Zugeständnisse oder üben besondere Nachsicht. Gleichzeitig bewachen sie mich strenger als die meisten Gefangenen. Wohl deshalb haben sie mich in einen speziellen Gefängnisblock gesteckt, wo meistens Menschen sitzen, die wegen Wirtschaftsverbrechen verurteilt wurden.

Wie werden Sie von den anderen Häftlingen behandelt? Wird unter den Gefangenen über Politik gesprochen, über den Krieg in der Ukraine?

Im Gefängnis sind ganz unterschiedliche Menschen, und viele interessieren sich natürlich für politische Themen. Manchmal gibt es Diskussionen, echte Konfliktsituationen sind mir noch nicht untergekommen. Bevor ich meine Anwälte treffe, bringen sie mich normalerweise zu einer Sammelstelle, wo ich zusammen mit vielen Gefangenen aus anderen Zellen etwa zwei Stunden lang warten muss. So lernen mich Leute, die meine politischen Aktivitäten verfolgt haben, persönlich kennen. Manch einer drückt seine Unterstützung aus, der andere fragt nach Neuigkeiten über den wirklichen Stand der Dinge an der Front.

Es wird berichtet, dass für die russische Armee mangels Personals in Gefängnissen rekrutiert wird.

Kriegsbefürworter treffe ich hier selten. Die meisten Gefangenen sind eher besorgt über die Aussichten des Landes, die wirtschaftliche und soziale Situation, die Verschärfung der Gesetze und wie es möglich sein wird, sich unter neuen Bedingungen nach der Entlassung an das Leben anzupassen. Natürlich wird im Gefängnis darüber diskutiert, wie Vertreter von PMCs (Anm. d. Red.: private Militärunternehmen, wie die Gruppe Wagner) Gefangene für den Krieg rekrutieren und dafür Geld und Rehabilitation versprechen. So erzählte mir einer der Gefangenen, der in einer Strafkolonie war und wegen eines neuen Strafprozesses nach Moskau zurückgekehrt ist, eine Geschichte: Er sagte, dass 15 Gefangene aus seiner Gefängniskaserne in das Kriegsgebiet gegangen sind. Am Ende überlebte nur einer.

Was bringt es politisch, dass Sie heute hinter Gittern sitzen und aus dem Gefängnis heraus Interviews geben?

In Gefangenschaft zu sein ist natürlich nichts Gutes. Nach Kriegsbeginn ließ der Kreml den Oppositionspolitikern allerdings keine andere Wahl: Emigration oder Gefängnis. Natürlich können Sie in einem gemütlichen Café bei einer Tasse Tee sicher im Ausland leben, mit Kollegen kommunizieren, Journalisten Interviews geben. Gewicht und Bedeutung der Worte eines Politikers, der sich für Auswanderung entschieden hat, wird jedoch stark verringert. Sie verlieren unweigerlich den Kontakt zu ihrem Land und zu ihren Leuten. Die Behörden bekommen die Gelegenheit, sie als »ausländischen Agenten« zu brandmarken, der »zu seinen Herren abgehauen« ist.

Für einen Politiker, der sich im Gefängnis befindet, ist es natürlich schwieriger zu arbeiten, da ihn das staatliche System isoliert. Kommunikation mit der Außenwelt bleibt nur über Briefe und Anwälte. Aber jedes seiner Argumente wiegt dadurch schwerer, wird gewichtiger, überzeugender. Denn die Bereitschaft einer Person, für ihre Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen, die Entschlossenheit, sich für ihre Worte zu verantworten, all dies verschafft ihr in den Augen der Gesellschaft echten Respekt.

Ein hoher Preis für politische Glaubwürdigkeit, finden Sie nicht?

Emigration oder Gefängnis, das ist eine sehr grausame, ich würde sogar sagen, eine dramatische Entscheidung. Tatsächlich muss man sich zwischen dem Mutterland und der persönlichen Freiheit entscheiden. Jeder von uns trifft eine eigenständige Entscheidung, was in einer solchen Situation zu tun ist.

Wie schaffen Sie es im Gefängnis, nicht die Hoffnung zu verlieren?

Es hilft mir sehr, davon überzeugt zu sein, dass ich im Recht bin. Mein Gewissen ist rein. Als unsere Regierung ein blutiges Massaker angerichtet hat, habe ich nicht geschwiegen, die Augen nicht gesenkt, nicht versucht, höfliche Synonyme für das Wort »Kriegsverbrechen« zu finden. Nein, ich habe lautstark die Wahrheit ausgesprochen über das, was geschehen ist, habe die Dinge beim Namen genannt und meine Landsleute zum Widerstand gegen den Krieg aufgerufen. Verzeihen Sie mir das Pathos, aber ich glaube, dass meine Mission edel ist. Und das inspiriert mich.

Außerdem spüre ich die aufrichtige Unterstützung von Verwandten, Freunden und Unterstützern, die massenhaft zu meinen Gerichtsverfahren kommen. Kein einziger Mensch hat mir nach der Verhaftung den Rücken gekehrt. Und natürlich sehe ich, wie sich viele Bürger in ganz Russland Sorgen um mein Schicksal machen. Sie haben keine Ahnung, wie viele Dankesbriefe im Gefängnis zu mir kommen. Tausende! Das Ausmaß dieser Korrespondenz erstaunt sogar die Gefängnisverwaltung. Obwohl die Propaganda behauptet, dass die Mehrheit der Menschen Putins aggressive Politik für richtig hält, bemerke ich Massenunterstützung für den Krieg im wirklichen Leben nicht.

Das war vor einigen Jahren noch nicht so.

Ja, 2014 war die Situation anders: An Balkonen und Privatautos hingen die Parolen »Die Krim gehört uns« und »Wir können das wiederholen« (Anm. d. Red.: Bezug auf den Sieg der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg). Die Behörden waren so selbstbewusst, dass sie im Zentrum Moskaus Oppositionsdemonstrationen für den Frieden unter russischer und ukrainischer Flagge zuließen. Jetzt sieht man die Symbole des Sondereinsatzes in Moskau vielleicht an Polizeiautos und Verwaltungsgebäuden. Sicherheitskräfte halten Menschen auf der Straße sogar wegen gelb-blauer Turnschuhe fest. Handelt die Regierung im Vertrauen auf ihre Beliebtheit so? Das ist ein Zeichen von Schwäche.

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