Unbemerkt und unkontrolliert

Weite Teile der europäischen Verteidigungspolitik finden ohne große Öffentlichkeit statt

Die europäischen Ambitionen in der angestrebten gemeinsamen Verteidigungspolitik haben infolge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und der als »Zeitenwende« bezeichneten Reaktion einen Schub erfahren. Schon die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr einzusetzen, brachte eine massive Verschiebung in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU mit sich. Der Trend wachsender Ausgaben für Verteidigung ist europaweit zu beobachten. Dass Deutschland, das gemeinsam mit Frankreich seit Jahren eine Führungsrolle bei Ausbau und Schaffung europäischer Verteidigungsstrukturen einnimmt, nun jährlich 25 Milliarden Euro mehr in den Verteidigungshaushalt pumpt, nehmen Kriegsgegner*innen europaweit mit Sorge zur Kenntnis. Zum Vergleich: Für das Jahr 2019 lag der Gesamtetat aller EU-Mitgliedsstaaten bei 186 Milliarden Euro.

Deutlicher als der Begriff »Zeitenwende« ist die Bezeichnung »180-Grad-Wende« in der Verteidigungs-, Wirtschafts- und Außenpolitik. Deuteten Ende 2021 die Zeichen im Koalitionsvertrag noch in Richtung der Wiederbelebung der internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle, muss im Jahr danach eher von kontrollierter Rüstung gesprochen werden. Zur Unterstützung der Ukraine erfolgten Lieferungen von Militärgerät, bei denen östliche EU-Länder ihre aus Zeiten des kalten Krieges stammenden Bestände an Waffensystemen abgaben und perspektivisch mit dem Nachkauf westlicher Waffensysteme auch die Ausrüstung der Nato vereinheitlichen werden. 

In Deutschland haben mittlerweile über 50 000 Menschen den Appell »Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz!« unterschrieben, der von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie der Partei Die Linke initiiert wurde. Angesichts der Dimensionen, die der Ukrainekrieg in seinen Folgen annimmt, ist das derzeit eine noch vergleichsweise geringe Zahl. Längst erfassen die Auswirkungen des laufenden Krieges die gesamte Gesellschaft und deren Alltag. Mit inzwischen drei Entlastungspaketen muss allein Deutschland die Folgen dämpfen, die mit kriegsbedingt steigenden Energie-, Mobilitäts- und Lebensmittelpreisen einhergehen. Diese Maßnahmen allein werden jedoch absehbar nicht reichen, um die Zuspitzung der sozialen Frage zu verhindern.

Bislang wird die Antwort auf den Krieg überwiegend in Rüstung gesucht. Diplomatische EU-Missionen, die die Ukraine und Russland zu Verhandlungen bewegen könnten, gibt es bislang nicht. Die von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gelobte innere Stärke, die wieder hervorgebracht worden sei, als es um die Reaktion auf den Angriffskrieg von Putin auf die Ukraine ging, umfasst weiterhin nur reaktive wirtschaftliche Maßnahmen, aber kein proaktives Streben nach Frieden im Rahmen von diplomatischen Verhandlungen.

Ein weiterer Anreiz liegt augenscheinlich auf wirtschaftlicher Prosperität als Nebeneffekt der sicherheitspolitischen Bedrohung. Es klingt geradezu zynisch, aber die Zerstörungen von Infrastruktur in Kriegs- und Krisengebieten bietet im Rahmen des Wiederaufbaus massives Investitionspotenzial. Je dringender die Infrastruktur benötigt wird, desto geringer dürften die Hürden bei der Auftragsvergabe sein. Beispielsweise bedeutet, die Elektrifizierung von Afghanistan vorantreiben zu wollen, weiterhin Investitionsoptionen für international operierende Konzerne.

Politik im Schatten

Weite Teile der europäischen Verteidigungspolitik finden ohne große Öffentlichkeit statt. Pesco, die ständige strukturierte Zusammenarbeit von EU-Mitgliedstaaten, ist im Vergleich zur Nato geradezu unbekannt. Was als Absichtserklärung für ein gemeinsames Vorgehen Ende 2017 begann, weist heute große Schnittmengen mit der Nato selbst auf. Die Pesco-Staaten verpflichten sich, ihre nationalen Rüstungsausgaben zu erhöhen, gemeinsam neue Waffen oder militärische Technologie zu entwickeln und gemeinsame Kapazitäten für militärische Operationen aufzubauen. Neben den 25 europäischen Staaten, die sich Pesco angeschlossen haben, sind mit den USA, Kanada und Norwegen sowie Beitrittsinteressenten wie der Türkei immer mehr Staaten daran beteiligt.

Dass in der Rede zur Lage der Europäischen Union, die Kommissionspräsidentin von der Leyen am 14. September 2022 hielt, Pesco und dezidierte Maßnahmen einer europäischen Verteidigungspolitik keine direkte Erwähnung fanden, täuscht über den laufenden Ausbau hinweg. Missionen auf dem Balkan und in Mali sind die augenfälligsten Handlungen.

Indirekter geht der Ausbau europäischer Infrastruktur vonstatten, wenn beim Bau von Straßen- und Brücken auch weiterhin die militärische Nutzbarkeit als Bauauflage eingepreist ist. So steckt im Militarismus allzu oft auch ein wirtschaftlicher Nutzen, ohne dass Rüstungskonzerne direkt betroffen sind.

Direkte Profite verschaffen sich die Rüstungskonzerne auch durch »Recycling«. Ausgemustertes Kriegsgerät wird wiederaufbereitet und dutzendfach von der vermeintlichen Abwrackhalde erneut verkauft. Ein Trend, der mit knapper werdenden Rohstoffen und steigenden Preisen für Öl allerdings absehbar Grenzen finden könnte. Die Anforderungen an Militärgerät steigen beständig. Panzer sollen weniger Kraftstoff verbrauchen und im Gefecht der verbundenen Waffen mit Computertechnologie zum Einsatz kommen, die in Militärtechnik der 1970er und 1980er Jahre weder vorhanden ist noch vorgesehen war.

Konflikte der Zukunft

Schon jetzt stehen kriegsführende Staaten vor den Herausforderungen einer zunehmend technologiebasierten Welt. Mit dem Einsatz von Computerchips in Waffensystemen machten sich die Armeen in einem neuen Aspekt vom Nachschub abhängig und entdecken die aufgrund der Corona-Pandemie weiterhin weltweit stockenden Lieferketten als strategisches Hemmnis.

Doch nicht nur im schwelenden Konflikt, sondern auch im Out-of-Area-Einsatz treten mit dem Klimawandel und der Zunahme von Wetterextremen neue Bedarfe auf. Oft bergen die notwendigen Investitionen einen doppelten Nutzen, bei dem Rüstung auch wirtschaftspolitisch relevant erscheint. Die European Defence Agency versucht mit »Green Military« nicht nur, verbrauchsärmere Armeefahrzeuge zu fördern, sondern auch das effizientere Betreiben von Feldlagern, deren autarke Versorgung immer schwieriger wird. Hitze, Starkregen und Überflutungen sorgen auch beim Militär für steigende Kosten. Am Thema selbst scheint auch ein Imagegewinn als Möglichkeit gesehen zu werden.

Dass auf akute Krisen quasi im Handumdrehen mit der Schaffung eines Sondervermögens reagiert wird, wenn es das Militär betrifft, indes andere Zwecke, wie Hochwasserschutz, Verkehrswende, Energiekrise oder Armutsbekämpfung hintanstehen, zeigt einerseits den niedrigen Stellenwert sozialer, friedenspolitischer und Vorsorgemaßnahmen, andererseits den Einfluss von Wirtschaftslobbyismus.

Eng verbunden mit der militärischen Aufrüstung ist auch die technologische Führungsrolle im Wettbewerb mit China, in dem es langfristig um Ressourcen, Marktmacht sowie strategische Interessen in Südostasien geht. Eine Trennung zwischen militärischem und wirtschaftlichem Handeln wird mit diesen politischen Ambitionen immer schwieriger. Für die USA erschließen der Ukrainekrieg und die Aufrüstung, die das 100-Milliarden-Sondervermögen mit sich bringt (Anschaffung von atomwaffenfähigen F35-Kampfjets), schon jetzt ein erhebliches Konjunkturprogramm. Linke Friedenspolitik dürfte damit absehbar noch stärker im Spannungsfeld zu wirtschaftlichen Interessen stehen.

In welche Richtungen EU-Gelder und Budgets fließen, veranschaulicht das Projekt »Open Security Data EU«. Nutzer*innen können in dieser Datenbank nachvollziehen, welche Unternehmen, Organisationen oder Projekte EU-Gelder im Bereich der Sicherheitspolitik beziehen.

Ein Militärhaushalt ohne Armee

Da die EU derzeit noch keine eigene Armee unterhält und sich durch Kooperationen organisiert, obliegt die Kontrolle der Armeeaktivitäten den Mitgliedsstaaten. Das nimmt EU-Parlamentarier*innen wesentliche Kontrollmöglichkeiten, wenn stets auf nationale Zuständigkeiten und Geheimschutzinteressen verwiesen werden kann. So auch beim Europäischen Verteidigungsfonds, der zwischen 2021 und 2027 rund 8 Milliarden Euro für militärische Forschung und Entwicklung umfasst. Insbesondere wenn nationale Projekte gefördert werden, bleibt die Umsetzung für EU-Parlamentarier*innen unhinterfragbar, weil auf nationale Sicherheitsinteressen verwiesen werden kann. Dem müsste konsequent mit einer Ausweitung der Kontrollbefugnis begegnet werden. Die Verwendung europäischer Gelder darf nicht im Verborgenen stattfinden und verschleiert werden. Der sowohl zivile als auch militärische Zweck von Projekten, die aus diesem Fonds finanziert werden, sorgt für Synergieeffekte, von denen insgesamt Militärinteressen profitieren.

Im Rahmen der Europäischen Friedensfazilität stehen weitere 5 Milliarden für gemeinsame Missionen und für Hilfen an Drittstaaten zur Verfügung. In Summe wirken diese Mittel wie versteckte Subventionen in Richtung der Rüstungsindustrie.

Mit dem Instrument zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (Edirpa) für den Zeitraum 2022 bis 2024, der im Juli 2022 angenommen wurde, stehen weitere 500 Millionen Euro bereit. »Das Instrument wird den Mitgliedstaaten einen Anreiz bieten, im Geiste der Solidarität gemeinsam Aufträge zu vergeben, und allen Mitgliedstaaten den Zugang zu dringend benötigten Verteidigungsgütern erleichtern«, gab die EU-Kommission bekannt und leitet den Bedarf aus dem Ukrainekrieg her.

Dass es angesichts der finanziellen Maßnahmen bei einer EU ohne Armee bleiben wird, ist spätestens seit der Vorstellung des Strategischen Kompasses im März 2022 unwahrscheinlich. Im Rahmen der dort vorgesehenen Maßnahmen zum Aufbau von Krisenmanagement, Resilienz, Fähigkeiten und Partnerschaften ist auch der Aufbau einer neuen Schnelleingreiftruppe vorgesehen, die bis zum Jahr 2025 in einer Stärke von 5000 Soldat*innen für Rettungs- und Evakuierungsmissionen, aber auch den Ersteinsatz im Rahmen der Krisenintervention zur Verfügung stehen sollen. Die vorgesehene 360-Grad-Analyse von Bedrohungslagen dürfte auf lange Zeit hinaus Anlässe für neue Rüstungs- und Entwicklungsinitiativen liefern, die schwer zu kontrollieren sind. »Man muss ehrlich sagen, dass die Kontrollmöglichkeiten von EU-Parlamentarier*innen insbesondere im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik gen null gehen und man nicht lediglich von erschweren sprechen kann«, kritisiert die EU-Parlamentarierin Özlem Alev Demirel (Linke). »Die Abgeordneten des EU-Parlaments, die den Kompass beurteilen sollten, haben die zu Grunde liegende Analyse nie zu Gesicht bekommen, mit dem Verweis darauf, dass die Daten aus den Mitgliedsstaaten seien. Abgeordnete der nationalen Parlamente konnten wiederum die Daten nicht erhalten, da es ein Dokument der EU ist und international erstellt wurde. So viel zu Transparenz und Kontrollmöglichkeiten und Verifizierbarkeit.«

In der Summe der Projekte, Budgets und strategischen Planungen sowie deren absehbaren Ausweitungen drohen die Idee des friedlichen Charakters der Europäischen Union sowie die Vorstellung von einer Mittlerrolle im Rahmen von Friedensverhandlungen, die bislang im Ukrainekrieg auch nicht eingenommen worden ist, weiter Schaden zu nehmen.

Auf Kosten der Welt

Dass die Reaktion auf Krisen mit Militär und Rüstung nicht erfolgversprechend ist, stellt die Sahelregion und die dort stattfindenden Maßnahmen im Rahmen französischer und europäischer Missionen unter Beweis. Die vielfältigen Ursachen für diese Krisen wie die angeschlagenen Volkswirtschaften, starkes Bevölkerungswachstum, schwache Institutionen sowie soziale Konflikte lösten die Einsätze nicht. Vielmehr beschwören Missionen in ehemaligen Kolonialgebieten den Widerstand der Bevölkerung herauf, wenn die vordergründigen Versprechen zur Verbesserung der Sicherheitslage auch nach Jahren nicht eingelöst werden.

Nach der gescheiterten Militärmission in Afghanistan und dem absehbaren Ende in Mali ist eine Neuorientierung und Analyse der Ziele und Mittel auch in der Sahelzone nötig. Dass neue Einsätze stattfinden werden, da in ihnen immer auch ein wirtschaftliches Potenzial steckt, ist eine schon jetzt absehbare Entwicklung. Wenn künftig das Mittel zur konstruktiven Enthaltung auch bei Militärmissionen zum Einsatz kommen sollte, dürfte die Zahl der Missionen aus nationalen Interessen einzelner oder mehrerer europäischer Staaten herauszunehmen. Damit läuft die EU Gefahr, dass sich abgekoppelte Kriege auf Betreiben einzelner Staaten hin entwickeln. Analog kann der US-Feldzug in Afghanistan gesehen werden. Während die Angriffe im Rahmen der Operation Enduring Freedom mit Verteidigung nicht begründbar waren, stellte ein Bündnis aus Nato- und Nicht-Nato-Mitgliedern als vermeintliche Helfertruppe eine wesentliche und kaum kaschierte Unterstützung. 

Linke europäische Politik muss sich angesichts dieser und vieler weiterer Aspekte, beispielsweise der Einsätze von Frontex im Mittelmeer und der auf Abwehr angelegten Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen, über die Rolle innerhalb der EU klar werden, um den friedensfördernden Charakter des Bündnisses nicht an die Rüstungsindustrie und Wirtschaftslobbyisten zu verlieren. Das verlangt linker europäischer Politik aber auch ab, bei der Ablehnung der etablierten konventionellen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eigene Lösungen aufzuzeigen. Dabei muss auch das Bedürfnis nach dem Schutz, den Sicherheits- und Verteidigungsbündnisse vorgeblich bieten, einfließen. Wie kann ein stabiler, positiver Frieden erreicht werden? Wie könnte ein Weg zu einer kooperativen Sicherheitspolitik angesichts aggressiver, imperialistischer Nachbarn und globaler Großmächtekonkurrenz aussehen? Wie kann eine europäische strategische Autonomie aussehen, mit der die EU international unabhängiger agieren und sich insbesondere von den strategischen Interessen der USA lösen könnte? Auf diese Fragen müssen linke Parteien wie auch die Friedensbewegung Antworten finden, um wieder eine breitere Zustimmung zu erreichen.

Der Text entstand im Anschluss an ein Expert*innentreffen des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Oberthema »Der Militarisierung entgegenwirken: Bestandsaufnahme und gemeinsame Wege im Kampf gegen die Militarisierung der Europäischen Union«, das die Stiftung Anfang September veranstaltete. Der Beitrag ist auch unter www.rosalux.eu zu finden.

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