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Spielfeld der Statistiker
Der Betrugsskandal im Schach um Jungstar Hans Niemann nimmt die nächste große Wende
Der Schachsport steckt endgültig im wohl größten Betrugsskandal seiner Geschichte. Im Mittelpunkt steht der 19-jährige aufstrebende Großmeister Hans Niemann aus den USA. Norwegens Weltmeister Magnus Carlsen warf seinem Kontrahenten in den vergangenen Wochen mehrfach vor, bei Partien die verbotene Hilfe von Computern zu nutzen. Seither wird in den diversen Schachforen kaum mehr von etwas anderem gesprochen. Am Dienstag wurde schließlich eine neue Stufe erreicht, als die führende Schachplattform chess.com einen 72-seitigen Bericht dazu veröffentlichte, warum sie Niemann vor gut einem Monat schon zum zweiten Mal gesperrt hat.
Niemann soll demnach in mehr als 100 Online-Partien betrogen haben. Der Amerikaner hatte bislang lediglich zugegeben, nur bei wenigen Gelegenheiten als 12- und 16-Jähriger, allerdings nie bei Turnieren mit Preisgeld, die Hilfe von Schachrechnern in Anspruch genommen zu haben. Dem Bericht zufolge habe er im Jahr 2020 jedoch auch noch mit 17 betrogen, und das auch bei Turnieren, in denen es um Tausende Dollar für die Sieger ging.
Bislang ist Niemann nie auf frischer Tat ertappt worden, weswegen Beobachter eher Weltmeister Carlsen dafür kritisierten, einen jungen Spieler ohne Beweise zu diskreditieren. Nun aber ist klar, dass Niemann selbst bei seiner jüngsten öffentlichen Beichte zu einem wichtigen Teil gelogen hatte. Dadurch wiederum bekommt Carlsens Aussage – »Ich glaube, dass Niemann mehr betrogen hat, als er öffentlich zugegeben hat« – mehr Glaubwürdigkeit.
Anfang September hatte der Weltmeister nach einer Niederlage gegen Niemann den prestigeträchtigen Sinquefield Cup in St. Louis vorzeitig verlassen. Er warf seinem Gegner vor, in kritischen Situationen für einen Menschen zu schnell und offenbar mühelos gewinnbringende Züge gespielt zu haben. Da Carlsen selbst ungewöhnlich schwach gespielt hatte, blieben aber viele Experten skeptisch. Auch der Bericht von chess.com stellte nun fest: »Wir fanden keinen direkten Beweis, dass Hans im Spiel gegen Magnus oder in anderen OTB-Spielen betrogen habe.«
OTB steht für »over the board«, also am realen Brett anstatt im Online-Schach. Diese Unterscheidung wird in der Szene oft getroffen, da ein Betrug online einfacher zu bewerkstelligen ist: In einem zweiten Browserfenster können parallel zur Partie die besten Computerzüge angezeigt werden, ohne dass der Gegner auf der anderen Seite der Welt davon erfährt. Am Brett hingegen gab es zwar auch schon Betrugsversuche, doch hier sind anspruchsvollere Methoden gefragt. Entdeckt wurden bislang: versteckte Handys auf der Toilette, kleine Geräte im Schuh oder Handsignale von Komplizen im Zuschauerraum.
Online ist Betrug viel schwieriger nachzuweisen, dabei geht es hier längst insgesamt um höhere Summen als bei den wenigen lukrativen Turnieren an den Holzbrettern. Umso wichtiger ist es, dass Portale wie chess.com funktionierende Anti-Betrugs-Methoden zur Anwendung bringen. Dazu gehören statistische Algorithmen, die jeden Zug eines Spiels mit denen der Computerprogramme vergleichen.
Treten Unregelmäßigkeiten auf, lässt chess.com zudem erfahrene Großmeister die Züge mit vergangenen Leistungen der Verdächtigen sowie mit denen ähnlich starker Spieler wie Alireza Firouzja vergleichen. Auch die Zeit, die fürs Entdecken komplizierter Zugfolgen benötigt wird, spielt eine Rolle. Es wird sogar aufgezeichnet, ob ein Spieler besser oder schlechter spielt, wenn er parallel andere Browserfenster geöffnet hat oder beim Streaming seiner Partien mehrfach den Blick auf einen anderen Bildschirm lenkt und dann bessere Züge findet.
Kurz gesagt: Es ist kompliziert. Doch chess.com rühmt sich damit, bereits mehrere Top-100-Spieler beim Betrug erwischt zu haben. Diese hätten das in privaten Korrespondenzen auch gestanden. Wie aus dem Bericht deutlich wird, kommen die Übeltäter dann glimpflich davon: Niemann und andere bekamen einfach neue Accounts, mit denen sie lediglich ein Jahr lang nicht an geldwerten Turnieren teilnehmen durften. Die Öffentlichkeit erfuhr nie etwas von den Vorwürfen und Geständnissen, schließlich wollte chess.com die guten Spieler nicht dauerhaft verlieren.
Vor gut 20 Jahren agierte der Weltradsportverband mit prominenten Dopingsündern ganz ähnlich. So wurden positive Tests wie etwa von Lance Armstrong unter den Teppich gekehrt und Zeugen zum Schweigen gezwungen. Darüber stolperten später sogar Präsidenten der UCI. Das dürfte der Führung von chess.com nicht passieren, denn sie vertreten keinen Verband, sondern ein Privatunternehmen. Und dieses hat mittlerweile fast das Monopol, was Online-Schach für Amateure und Turniere für Profis betrifft – jetzt, da auch Magnus Carlsen auf chess.com mitspielt.
Dennoch dürfte sich der Umgang mit Betrügern nun ändern, schließlich ist die Schachwelt in Aufruhr. Und die Affäre ist längst noch nicht ausgestanden, denn Niemann wird auch am Brett Betrug vorgeworfen. Seit Carlsen in St. Louis die ersten Andeutungen machte, übertreffen sich Statistiker und Ingenieure dabei, Beweise für und Mittel des Betrugs zu finden. So präsentierte die französische Spielerin Yosha Iglesias Berechnungen, denen zufolge Niemann ungewöhnlich oft Partien spielte, in denen jeder Zug dem eines Computers entsprach. Angeblich seien zehn dieser perfekten Spiele in den Datenbanken zu finden, dazu 23 mit einer Genauigkeit von mehr als 90 Prozent im Vergleich zum Computer. Carlsen, der mit Abstand beste Spieler dieser Generation, hat nur je zwei Partien mit 100 oder wenigstens über 90 Prozent Genauigkeit gespielt.
Der brasilianische Datenanalyst Rafael Milk legte nach: Ihm zufolge entwickeln sich alle Spitzenspieler auf dem Weg zu einer höheren Spielstärke graduell: Das heißt, ihre Züge liegen anfangs im Schnitt noch weit von denen des Computers entfernt, gleichen sich mit mehr Erfahrung und Training über die Jahre aber immer mehr an. Außerdem werden die Ausschläge, also Partien, in denen sie besonders gut oder schlecht spielen, seltener. Milk wies diese offenbar natürliche Entwicklung für unzählige Spitzenspieler, unter anderem auch für Carlsen oder den Deutschen Vincent Keymer nach.
Niemann hingegen machte einen ungewöhnlichen Sprung, als er im gängigen Elo-Wertungssystem eine Punktzahl von 2500 erreicht hatte. Elo beschreibt allgemein die Spielstärke von Schachspielern, Magnus Carlsen hat mit 2853 derzeit die höchste. Für die 200 Punkte davor brauchte er vier Jahre, die nächsten 180 schaffte er in nur 18 Monaten. Obwohl der Amerikaner mittlerweile eine Elo-Zahl von 2699 erreicht hat, macht er im Vergleich zu anderen Spielern dieser Stärke aber immer noch viel mehr Fehler, so Milk. Die oben genannten Ausschläge passten also nicht zu seiner numerischen Spielstärke. Also stellt sich die Schachwelt die Frage: Wie kam Niemann zu dieser Elo-Zahl? Wie konnte er so viele andere Großmeister auf diesem Level besiegen? »Meine Berechnungen sind ein starker Beweis dafür, dass Hans Niemann betrogen hat«, ist zumindest Milks klare Antwort auf diese Frage.
Aber wie hat er es getan? Turnier-Organisatoren kontrollieren selbst die Toiletten längst auf versteckte Handys. Mit Metalldetektoren werden die Kontrahenten abgetastet, um Geräte am Körper aufzuspüren. Also bastelten diverse Youtuber programmierte Geräte zum Verschlucken, und selbst Elon Musk erwähnte auf Twitter eine zuvor eher witzig gemeinte Theorie von Anal-Perlen, die heimlich über Vibrationen das Signal an einen Spieler senden könnten, welcher Zug denn nun der beste wäre. So fand der Schach-Skandal sogar den Weg in die größten Comedy-Talkshows des US-Fernsehens.
Chess.com hat zwar nur auf dem Gebiet des Online-Betrugs große Expertise, trotzdem wagte die Plattform nun auch eine Analyse von Niemanns Leistungen am Brett. Die Methodologie von Yosha Iglesias entspreche nicht den eigenen Standards, heißt ein Urteil. Eigenen Berechnungen zufolge habe Niemann sogar seltener perfekt gespielt als vergleichbare Talente.
Ein großes Problem ist ohnehin, dass Spitzenspieler keineswegs perfekt spielen müssen. Ein oder zwei Computerzüge zum richtigen Zeitpunkt reichen ihnen bereits, um eine Partie zu entscheiden. Es wäre also auch für Niemann nicht notwendig, eine hundertprozentig akkurate Partie zu spielen. Das wiederum macht es noch schwieriger, Betrüger von ehrlichen Spielern zu unterscheiden. Ein Geistesblitz hier und da kann schließlich jedem mal kommen.
Dennoch schreiben auch die Analysten von chess.com, dass Niemanns Aufstieg in den vergangenen zwei Jahren »statistisch außerordentlich« sei. »Während seine Leistungen in manchen Matches im Bereich des statistisch Möglichen liegen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spieler über eine so lange Zeit so gut agiert, doch unglaublich gering«, heißt es. Zudem übertreffe der Qualitätssprung, den Niemann im Alter zwischen 11 und 19 Jahren machte, selbst den von Bobby Fisher und Magnus Carlsen, die von Schachexperten weltweit neben dem Russen Garri Kasparow zu den drei besten Spielern der Schach-Geschichte gezählt werden.
Niemann sagt, er habe nach seiner Sperre von chess.com im Jahr 2020 einfach viel mehr Zeit ins Training investiert, um sich und der Welt zu beweisen, dass er zu den ganz Großen der Szene gehört. Und solange er nicht direkt am Brett mit einem versteckten Mini-Computer erwischt wird, besteht immer noch die minimale Möglichkeit, dass er einfach das größte Schach-Genie ist, das die Welt je gesehen hat. Wirklich daran glauben kann aber mittlerweile wohl nur noch er selbst.
Die nächste Bewährungschance bietet sich ihm seit Mittwoch bei den US-Meisterschaften – erneut in St. Louis. Einige Dinge sind schon vor dem Turnierstart sicher: Die Schachwelt wird genau darauf schauen, wie Niemann spielt und ob die Sicherheitsvorkehrungen etwa mit sensibleren Metalldetektoren verstärkt wurden. Und Niemanns Kontrahenten werden ihn nicht gerade euphorisch am Brett begrüßen.
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