Wahrheit oder Untergang

Der berüchtigte französische Theoretiker Louis Althusser hält bis heute eine Lektion für die marxistische Linke bereit

  • Florian Geisler
  • Lesedauer: 8 Min.
Theorie-Ikonen der französischen Philosophie – Michel Foucault, Jacques Rancière, Étienne Balibar – saßen bei Althusser im Seminar. Dessen Rigorosität war vielen »zu erdrückend«, wie es Jacques Derrida einmal formulierte.
Theorie-Ikonen der französischen Philosophie – Michel Foucault, Jacques Rancière, Étienne Balibar – saßen bei Althusser im Seminar. Dessen Rigorosität war vielen »zu erdrückend«, wie es Jacques Derrida einmal formulierte.

Der Marxismus steckt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in einer tiefen Krise. Einer weitverbreiteten Ansicht zufolge hing diese vor allem mit der Stalinisierung der Sowjetunion zusammen: Eine lebendige Theorie war zum starren Dogma geraten. In dieser Art, die Geschichte zu erzählen, gerät jedoch aus dem Blick, dass die marxistische Theorie des Historischen Materialismus nicht erst von außen korrumpiert werden musste. Schon vorher, auf der Innenseite, unter der Motorhaube der marxistischen Philosophie sozusagen, lag einiges im Argen. Viele der Grundbegriffe, so wie man sie von Marx übernommen hatte, waren in ihrer Bedeutung und Systematik ungeklärt – und bleiben es oft bis heute.

Kaum jemand hat so schonungslos auf diese innere Krise des Marxismus hingewiesen wie der französische Philosoph und Marxist Louis Althusser. Sein Werk ist bis heute umstritten. Er gilt wahlweise selbst als quasistalinistischer Dogmatiker, als Wegbereiter eines zum Poststrukturalismus »geöffneten« Marxismus oder völlig zu Recht als Wahnsinniger und Mörder seiner eigenen Frau. Ganz vorbei kommt man an ihm jedoch nicht, denn er ist gewissermaßen die Verkörperung der historischen Krise des Marxismus. Ein unlängst erschienener Band aus dem VSA-Verlag und Althussers Todestag am 22. Oktober sind ein guter Anlass, daran zu erinnern.

Die Frage des Marxismus

Der akademische Marxismus war schon immer eine Angelegenheit genauer Textarbeit – und auch Philologie kann ein politisches Projekt sein, das hat die Geschichte der Herausgabe von Marxens Werken immer wieder gezeigt. Aber kaum ein Denker legte dabei eine solche Pedanterie und Ausdauer an den Tag wie Althusser. »Omnibus dubitandum« heißt es als Motto bei Marx: »Alles muss bezweifelt werden.« Althusser nahm diese Aufforderung so wörtlich, wie es nur irgend geht, und wendete sie schonungslos gegen den etablierten Marxismus selbst an.

Schon Zeitgenossen hatten oft wenig Verständnis für die eigenwillige und ruppige Interpretation von Marxens Werk, die dabei herauskam. Im mittlerweile zum Klassiker avancierten »Das Kapital lesen«, eine Sammlung von Grundsatzreferaten, die Althusser im Austausch mit einer ganzen Reihe von Wegbegleitern verfasste (von denen sich übrigens fast alle früher oder später von Althussers Kompromisslosigkeit abwenden werden), geht es etwa nur wenig um klassische marxistische Theoreme wie Mehrwert, Warenform und Krisentheorie. Stattdessen steht eine Wissenschaftstheorie im Mittelpunkt: Althusser will vom Marxismus wissen, wie denn eigentlich die Frage heißt, auf die Marx vermeintlich eine so gute Antwort lieferte.

Diese Auseinandersetzung klingt zweifellos abstrakt, macht aber einen wirklichen Unterschied in der Politik, die am Ende herauskommt: An die Stelle der Hoffnung auf eine baldige Selbstzerstörung des Kapitalismus tritt das Bewusstsein für seine unglaubliche Resilienz und Erneuerungskraft und die sehr reale Gefahr, dass die Revolution auf Dauer ausbleibt.

Tatsächlich sind aus den von Althusser angestoßenen Überlegungen gleich mehrere »Schulen« politischen Denkens hervorgegangen. Von der Kritik naiver Vorstellungen von Macht nach Michel Foucault bis zum dritten Weg des »Eurokommunismus« bei Nicos Poulantzas kann man diesen Einfluss nachvollziehen. Aber auch im Kleinen, etwa auf Fortbildungen des Gewerkschaftsbundes kann man gelegentlich noch Vertreter*innen klassischer und sogenannter Neuer Marx-Lektüren auf einem Podium sich fetzen sehen.

Was tut die Philosophie?

Zum Hintergrund von Althussers Eifer gehört sicher auch, dass die französische Nachkriegsphilosophie lange kaum über Expertise in Sachen Marx verfügte. Während in Deutschland durchaus eine produktive Aneignung des Marx’schen Werks stattfand, fielen in Frankreich schon früh wichtige Grundsatzentscheidungen gegen Marx: In der Nachfolge der Résistance etwa spielte vor allem der Existenzialismus eine Rolle, und an den Universitäten wurden entweder Hegel oder der Strukturalismus und Spinoza entdeckt.

Eine breite Auseinandersetzung mit Marx begann eigentlich erst, als auch dessen frühe Texte zugänglich wurden. Die »Grundrisse« etwa boten ein wichtiges Fundament für eine antiautoritär angelegte Marx-Lektüre, die sich von den Interpretationen des Sowjetmarxismus abgrenzte. Genau zu diesem Zeitpunkt aber erklärte Althusser kurzerhand Marxens gesamtes Frühwerk für weitgehend unbrauchbar. Er argumentierte, dass in Marx’ Schriften ab ungefähr 1845 eine grundlegende Veränderung – ein epistemologischer Bruch – zu erkennen sei, hinter den man nicht zurückfallen dürfe.

Ab hier hätte Marx keine philosophischen Kritiken mehr verfasst, sondern die Praxis der Philosophie grundlegend infrage gestellt: Wie kommt es eigentlich zu der bemerkenswerten Situation, dass sich eine ganz bestimmte Schicht von Menschen (nämlich Philosoph*innen) in Bibliotheken sitzend Lehrsätze und Kommentare ausdenken, die dann eine gesellschaftliche Wirkung entfalten? Das Philosophieren selbst sei, genau besehen, eine zutiefst fragwürdige Praxis, mit der eine Form von Herrschaft ausgeübt werde. Über diese Form solle man nicht spekulieren, sondern ihre Geschichte wissenschaftlich erforschen. Diese »Entdeckung des Kontinents der Geschichte«, wie Althusser es nannte, hat eine Tür aufgestoßen, die bis heute nicht mehr ganz zugeschlagen werden konnte: Die Welt wird nicht von Identitäten gemacht, sondern von Verhältnissen.

Auch der Marxismus sollte daher, so Althusser, nicht einfach ein philosophisches Zuhause für die Arbeiterklasse zimmern, sie über den Klee loben und in ihrem Namen nach mehr Gerechtigkeit rufen. Denn dabei bliebe unbeachtet, wie die Klasse auf diesem Wege gerade in eine Welt bürgerlicher Ideen und Werte eingebunden, eingehegt und kontrolliert wird – zum Nachteil all derer, die nicht an dieser Welt teilhaben können.

In Algerien geboren und erst im Alter von zwölf Jahren nach Frankreich verpflanzt, hatte Althusser die ein oder andere Vorstellung von den kolonialen Realitäten und ahnte, dass Revolutionen nicht nur von und für eine partikulare Klasse geführt werden können. Fortschritt müsse sich vielmehr, um wirklich als solcher zu gelten, schon vor der ganzen Welt und der ganzen Geschichte verantworten können. Ein kleiner Fortschritt, der auf Kosten anderer erkämpft wird, ist keiner! Wir kennen das auch heute: indem wir zum Beispiel die Klimakrise damit »kompensieren«, eifrig batterie- statt benzinbetriebene Autos zu bauen und die dafür nötigen Rohstoffe aus anderen abhängigen Ländern herauspressen.

Die Zukunft dauert lange

Dass solche immer wiederkehrenden Muster kein Zufall sind, sondern wirklich aus der Struktur einer Gesellschaft hervorgehen, die man erkennen und verändern kann, und dass sich die Theorie deswegen nicht allein auf negative Kritik beschränken darf, sondern eine Theorie der Geschichte braucht – das ist eine der wichtigsten Lektionen Althussers. Sie wird lange Zeit im Gegensatz zum Zeitgeist stehen. Die Periode der Studierendenrevolten in den 60er Jahren verlangte eher nach praktischen Lösungen und plakativen Slogans. Bald darauf verkündete der Kapitalismus in seiner neoliberalen Form, dass es so etwas wie Gesellschaft ohnehin nicht gebe. In der Soziologie übernahmen Systemtheorie und ein Strukturalismus, für die Gesellschaft ebenfalls keine eigene Geschichte mehr kennt.

Althussers Projekt ist aber wiederum nicht in erster Linie an solchen äußeren Umständen gescheitert, sondern an seinen eigenen kaum einzulösenden Ansprüchen. Die Kompromisslosigkeit, mit der Althusser an allen philosophischen Fronten ohne Rücksicht auf Verluste kämpfen wollte, zahlte sich nicht aus. Es gibt vielleicht so etwas, wie zu viel Marx gelesen zu haben. Die akademische Philosophie betrachtete er – nicht zu Unrecht – stets als genuin feindliches Territorium voller »Wichtigtuer«, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die letzte Autorität am Ende doch nur immer wieder aus Marx zu schöpfen. Weil ihm auch die positive Forschungswelt suspekt erschien, taucht an den entscheidenden Stellen seines Werkes statt Wissenschaftlichkeit dann doch immer wieder der Spuk der Dialektik auf. Wo konzeptuelle Probleme nicht mit dem Kopf durch die Wand gelöst werden können, macht sich sofort wieder philosophischer Jargon breit. Der paranoide Zirkel ist damit komplett. An Althusser selbst vollzieht sich so die ganze »Krise des Marxismus«, verdichtet in einer einzigen Person, von Neuem.

Genau diesen Titel trägt nun auch eine kleine Neuauflage einiger seiner Schriften aus den 70er Jahren, die dieses Jahr zum 50. Jubiläum des VSA-Verlags erschienen ist. Er dokumentiert jenen bemerkenswerten Niedergang. Denn die darin enthaltenen Texte von 1971/72 zeugen noch von einem durch nichts zu trübenden Enthusiasmus und einem seitdem kaum mehr erreichten Niveau politischer Theorie und inhaltlicher Kohärenz. Der große Traum von der revolutionären Praxis ist aber 1977/78 definitiv vorbei: Verwirrung, Ratlosigkeit und Jargon machen sich breit in einem Diskurs, der bereits im Absterben begriffen ist.

Die Texte sind jedoch zugleich auch Dokument einer rigorosen Selbstkritik. Die Ansprüche an die lückenlose Begründung der eigenen Position sind – so nur einer der vielen bemerkenswerten Gedanken aus dem kleinen Band – so hoch, dass Althusser dafür eine eigene Kategorie einführt: Die »Justesse«, auf Deutsch also so etwas wie eine »Theorie der Richtigkeit«, mit der sich Althussers »Klassenkampf in der Theorie« selbst kontrollieren soll. Das erinnert nicht nur entfernt an Lenins Diktum von der Allmächtigkeit, Wahrheit und Harmonie der Marx’schen Lehre.

Althusser hat das wohl genau so gemeint, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen: Die Wahrheit des Marxismus will er nicht einfach behaupten, sondern er fordert sie von der Theorie ein. Der Historische Materialismus kann und sollte nur dann eine Autorität ausüben, wenn es ihm gelingt, sich als wahr, harmonisch und wissenschaftlich zu beweisen. Gelingt ihm das nicht – und so schließt sich erneut der Kreis zur Person selbst –, muss und soll er untergehen. Was man von Althusser auch heute noch lernen kann, ist, sich vor dieser Aufgabe nicht wegzuducken.

Louis Althusser: Die Krise des Marxismus. VSA, 108 S., br., 14 €.

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