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Märtyrer-Chronik der Namenlosen

Anna Seghers’ wenig beachteter Roman »Die Gefährten« in der Werkausgabe

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Roman hatte kein Glück. Er erschien im Oktober 1932 bei Gustav Kiepenheuer und fiel ein Vierteljahr später schon den Nazis zum Opfer. Anna Seghers, von der Gestapo verhaftet, floh nach der Freilassung mit Mann und zwei Kindern über die Schweiz nach Frankreich und 1941 weiter nach Mexiko. Im April 1947 kehrte sie zurück nach Berlin. Hinter ihr lagen vierzehn Jahre Exil, der Welterfolg »Das siebte Kreuz«, der Roman »Transit« und ihre Novelle »Der Ausflug der toten Mädchen«, die Werke ihrer Reifezeit. Eine Berliner FDJ-Gruppe schenkte ihr Wochen danach zum Tag des freien Buches ein gerettetes Exemplar der »Gefährten«, ihres ersten Romans, der beinahe so unbekannt war wie fast alles, was sie einst geschrieben und publiziert hatte.

Es dauerte noch bis 1949 (in der Bundesrepublik sogar bis 1968), dann brachte der Aufbau-Verlag die fällige Neuausgabe heraus. Sie erschien noch einmal 1950, danach auch als Taschenbuch, später in den beiden Werkausgaben der Schriftstellerin, jeweils gekoppelt mit der Erzählung »Aufstand der Fischer von St. Barbara«, der ersten, mit dem Kleistpreis ausgezeichneten Buchveröffentlichung von 1928. Besondere Beachtung fand der Roman freilich nie. Alles Interesse konzentrierte sich auf die großen Exilschöpfungen »Das siebte Kreuz« und »Transit«. So ist es bis heute geblieben. Das Frühwerk ziemlich unbekannt, das Spätwerk, gern reduziert auf die verunglückten Romane »Die Entscheidung« und »Das Vertrauen«, in seinem Rang, seinem thematischen Reichtum und dem erzählerischen Niveau kaum erkannt und gewürdigt.

Glücklicherweise ist der Aufbau-Verlag dabei, die Hinterlassenschaft der Seghers neu zu edieren. Die Ausgabe, 2000 mit »Transit« eröffnet, kommt zwar nur langsam voran (zwischen 2012 und 2021 erschien kein einziger Band), aber sie bietet mit ihren geprüften Texten und den gründlichen Kommentaren alles, was ein authentisches Bild ihres Schaffens ermöglicht, jenseits aller schiefen Urteile und forschen Behauptungen. Die in den USA lebende Mitherausgeberin Helen Fehervary, die lange an der Ohio State University lehrte, hat bereits den Auftakt der Reihe mit dem »Aufstand der Fischer von St. Barbara« ediert, jetzt kommt der Anschlussband mit den »Gefährten« dazu, das Buch, dessen Ursprung noch in die Heidelberger Zeit der Studentin fällt, als die jungen Leute erregt den Flüchtlingen lauschten, die vor dem Terror in ihren Ländern geflohen waren und deren Berichte »vielen in Deutschland wie Gräuelmärchen erschienen«.

Damals entstanden, gestützt vor allem auf die Erzählungen von László Radványi, des ungarischen Juden und Kommunisten, mit dem sie ab 1925 verheiratet war, die ersten Seiten eines Romans über die brutale Zerschlagung der ungarischen Räterepublik und die Verfolgung der Revolutionäre. Diese frühe Fassung, die um weitere Erzählstränge mit großem Figurenensemble erweitert wurde, war wahrscheinlich die Keimzelle der »Gefährten« mit ihren kommunistischen Helden, mutigen Arbeitern und Intellektuellen aus Ungarn, Polen, Italien, Bulgarien und China, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges für die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse kämpften und dafür Qualen, Folter, Tod und Vertreibung in Kauf nahmen.

»Alles war zu Ende. Das Dorf war eingekreist, die Dorfausgänge waren besetzt, die Luft war bitter, die Herzen hämmerten«: So beginnt Anna Seghers und erzählt, kunstvoll verschränkt, geschult an modernen Erzählern wie John Dos Passos und Hans Henny Jahnn, inspiriert vom Erzählton der Bibel und der Montagetechnik des Filmschöpfers Sergei Eisenstein, von Auflehnung, Tapferkeit, Angst, Haft, Totschlag, Flucht und Illegalität. Manchmal kreuzen sich die Wege ihrer Helden, gleich darauf streben sie aber schon wieder auseinander. Mit harten Schnitten wechselt ständig die Szenerie, und mögen alle, die hier agieren, ob in Shanghai, Rom oder Budapest, auch noch so unterschiedlich sein, am Ende sind aus den tapferen Kämpfern gnadenlos Gejagte geworden.

Siegfried Kracauer hat den Roman 1932 in seiner Rezension deshalb auch eine »Märtyrer-Chronik« genannt, ein Werk über »Namenlose, die nie jemand kennen wird«. Von einem starken, herrlichen Buch sprach auch Willi Bredel, wenngleich ihm die moderne, ungewohnte Erzählweise nicht zusagte. Der Zuspruch allerdings in den wenigen Rezensionen, die bis zum Verbot der »Gefährten« erschienen, hielt sich in Grenzen. Auch später, als der Aufbau-Verlag den Roman DDR-Lesern zugänglich machte, hat Anna Seghers wenig Zustimmung gefunden. Das Buch geriet prompt in die verhängnisvolle Formalismus-Debatte und wurde auch danach, gemessen am obligatorischen Realismusbegriff und am »Siebten Kreuz«, als Fremdkörper im Werk gesehen. Ein einsamer (und folgenloser) Rufer blieb Stephan Hermlin, der 1947, wenn auch nur nebenbei, die avantgardistische Qualität der »Gefährten« hervorhob.

Die Literaturwissenschaft, von solcher Euphorie unbeeindruckt, hielt sich lieber ans Übliche. Sie monierte die Darstellung des Proletariats, die Verwendung religiös-mythischer Metaphern und dass Anna Seghers, konzentriert auf »Vorhutgestalten«, das »Volksleben in seiner Breite und Tiefe nicht voll erfaßt habe«, wie es 1978 in der »Geschichte der Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart« hieß. Erst Sigrid Bock entzog 1980 in einem Aufsatz dieser unverhohlenen Missachtung des Buches den Boden.

Der Roman war lange in den Buchhandlungen nicht zu finden. Er schien entbehrlich. Wer von ihm bloß gehört hatte, verspürte kaum den Drang, ihn zu lesen. Helen Fehervary rückt ihn mit ihrer Edition endlich ins Licht. Neben dem umfangreichen Anmerkungsteil, der nach intensiven Archivforschungen alle nötigen Informationen liefert, Personen, literarische und politische Ereignisse und Zusammenhänge erhellt, ist ihr Kommentar in der Gründlichkeit, mit der die einzelnen Handlungsstränge erläutert werden, eine rühmenswerte Leistung. Hier sind die Intentionen der Seghers genauso dokumentiert wie die nörgelnden und kunstfremden Urteile, die für die Qualität dieser Prosa mit ihren starken Bildern und ihrem erzählerischen Sog keinen Blick hatten.

Anna Seghers: Die Gefährten. Werkausgabe. Das erzählerische Werk I/1.2. Bandbearbeitung: Helen Fehervary, Mitarbeit: Jennifer William. Aufbau, 323 S., geb., 36 €.

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