Verordneter Fortschritt

Britische Regierung will Frauen in Nordirland legale und sichere Abtreibungen ermöglichen

  • Dieter Reinisch, Galway
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer glaubt, die Politik in London sei chaotisch, zerstritten und für Außenstehende kaum nachvollziehbar, sollte einen Blick auf die andere Seite der Irischen See wagen. Denn in Nordirland bedarf es sogar der konservativen Tories, um progressive Gesetze durchzusetzen, weil sich die Parteien in Belfast weigern. Aktuellstes Beispiel: Schwangerschaftsabbrüche.

Diese sind zwar seit drei Jahren entkriminalisiert, doch weigerte sich das nordirische Gesundheitsministerium, legale Möglichkeiten zur Abtreibung zu schaffen. Am Montag twitterte der nordirische Staatssekretär Chris Heaton-Harris völlig überraschend: »Heute habe ich angekündigt, dass die britische Regierung nach anhaltender Untätigkeit von
@healthdpt Abtreibungsdienste in Nordirland einrichten wird. Zu lange wurde Frauen und Mädchen in Nordirland der Zugang zu medizinischer Grundversorgung verwehrt.«

Der Staatssekretär ist der höchste Beamte Londons in Nordirland. Sein Schritt zeigt den völligen politischen Stillstand in Belfast. Seit Februar gibt es keine Regierung, und am Freitag werden wohl Neuwahlen ausgerufen. Heaton-Harris wird auch nach dem Wechsel an der Spitze der britischen Regierung im Amt bleiben. Im November will er Gespräche aufnehmen, um Abtreibungen in Nordirland zu ermöglichen. »Ich werde mich in den kommenden Wochen mit den Vorständen der Gesundheits- und Sozialfürsorge in Nordirland treffen, um sicherzustellen, dass diese Dienstleistungen erbracht werden können«, teilte Heaton-Harris mit. »Letztendlich bleibt es in der Verantwortung der nordirischen Regierung, Abtreibungsdienste zu finanzieren.«

Am 21. Oktober war der dritte Jahrestag der Entkriminalisierung von Abtreibungen in Nordirland. Auch dieser Schritt ging von London aus. Bereits im Juli 2021 hatte der damalige Staatssekretär Brendon Lewis das Gesundheitsministerium in Belfast angewiesen, bis spätestens März 2022 legale Abtreibungen zu ermöglichen. Seither war nichts geschehen. Das Ministerium wird seit Januar 2022 von Robin Swann von der konservativen Ulster Unionist Party (UUP) geführt.

Bis zum Herbst 2019 waren Abtreibungen in Nordirland verboten. Doch als die dortige Koalition 2017 zerbrach und das Parlament drei Jahre nicht tagte, nutzte London die Zeit, um Abtreibungen in Nordirland zu entkriminalisieren. Das nordirische Interregnum soll nun auch den nächsten Schritt ermöglichen: »Die britische Regierung hat deutlich gemacht, dass sie Einrichtungen für Schwangerschaftsabbrüche in Auftrag gibt, wenn das Gesundheitsministerium nicht handelt. Wir bedauern, dass dieser Schritt notwendig ist, da die Umsetzung Sache des Gesundheitsministeriums sein sollte.« Von dort hieß es knapp, dass man mit London und den Gesundheitsdiensten »auf Grundlage der Gesetze zusammenarbeiten werde«. Von Minister Swann gab es bisher keine Stellungnahme. Auch die größte Partei Nordirlands, die republikanische Sinn Féin (SF), äußerte sich noch nicht. Im vergangenen Jahr riefen SF und die sozialdemokratisch-nationalistische SDLP das Gesundheitsministerium auf, Abtreibungen endlich zu ermöglichen.

Grainne Teggart von Amnesty International fordert: »Es ist wichtig, dass die notwendigen Finanzmittel gleichzeitig mit der Einrichtung der Dienste freigegeben werden, damit sie zugänglich sind – nicht nur rechtlich, sondern auch in der Praxis.« Laut dem nordirischen Gesundheitsministerium gab es 2020/21 einen Anstieg auf 63 Schwangerschaftsabbrüche im Vergleich zu 22 im vorangegangenen Berichtsjahr. Die medizinische Fachzeitschrift »The Lancet« berichtete im März, dass 1014 nordirische Frauen 2019 nach Wales und England reisten, um abzutreiben. Die Zahl sank 2020 wegen der Pandemie auf 371. Zusätzlich sollen 17 Frauen nach Schottland und 36 in die Republik gereist sein, um Schwangerschaften abzubrechen.

Die Dunkelziffer der unter unhygienischen Bedingungen selbst durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche und jener Frauen, die mit Billigfliegern nach England reisen, um dort heimlich abzutreiben, liegt nach Schätzungen der Plattform »FactCheckNI« im hohen vierstelligen Bereich.

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