Geheimakte NSU-Prüfbericht

Interne Dokumente des hessischen Verfassungsschutzes zum Umgang mit dem NSU werfen Fragen auf

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Es kommt nicht alle Tage vor, dass sich der Bundeskanzler zum Inhalt einer TV-Sendung äußert, noch dazu, wenn das Format unter Satire firmiert, die laut Kurt Tucholsky bekanntlich alles dürfe. Bei Jan Böhmermann und seinem „ZDF Magazin Royale» steht allerdings schon länger der Verdacht im Raum, dass die in Köln arbeitende Redaktion in Wahrheit Journalismus mit satirischem Unterhaltungsanspruch betreibt. Im Zusammenhang mit ihrer aktuellen Ausgabe veröffentlichte das Magazin in Zusammenarbeit mit der Initiative „Frag den Staat» bisher vom hessischen Landesamt für Verfassungsschutz unter Verschluss gehaltene Akten zur rechtsterroristischen NSU-Mordserie.

Während die Bundesregierung auf Whistleblower*innen im Ausland gerne auch mal ein Hohelied anstimmt, kritisiert Kanzler Olaf Scholz (SPD) laut einem seiner Sprecher die Veröffentlichung der NSU-Berichte. Nebulös heißt es, da „diese Bundesregierung insgesamt sehr regelkonform» arbeite, nehme man „alle Veröffentlichungen, die den Regeln nicht entsprechen», nicht begeistert zur Kenntnis. Einen Regelbruch sieht auch der hessische Verfassungsschutz und stellte bereits am Montag beim Landeskriminalamt Strafanzeige aufgrund der „unrechtmäßigen Weitergabe von als Verschlusssachen eingestuften Dokumenten». Offiziell richtet sich die Anzeige gegen Unbekannt. Böhmermanns Team und „Frag den Staat» hatten mit solch einer Reaktion gerechnet. Via Twitter erklärte der Satiriker, um ihre Quellen zu schützen, habe das Team die NSU-Akten „komplett abgetippt und ein neues Dokument erstellt, um keine digitalen Spuren zu hinterlassen.» Noch schärfer als Kanzler Scholz äußerte sich die hessische Regierungspartei CDU. Deren Parlamentarischer Geschäftsführer Holger Bellino behauptete, die Grenzen der Pressefreiheit seien überschritten worden, durch die Veröffentlichung könnten „Menschenleben gefährdet und die Arbeit der Sicherheitsbehörden nachhaltig erschwert werden», gleichzeitig aber würden Angehörige der NSU-Opfer daraus keine neuen Erkenntnisse gewinnen. Was Bellino nicht sagt: Klarnamen von V-Leuten stehen in den Berichten keine, die Akten sind an zahlreichen Stellen geschwärzt.

Hinterbliebene der NSU-Opfer kommen zu einem anderen Schluss als die CDU. Gamze Kubașik, Tochter des ermordeten Mehmet Kubaşık, veröffentlichte über ihren Anwalt eine Erklärung, in der sie sich ausdrücklich für die Veröffentlichung bedankt. „Ich freue mich über jeden weiteren Whistleblower», so Kubașik. Auch die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die im Münchner NSU-Verfahren die Familie des ermordeten Enver Şimşek vertrat, äußerte sich zum Leak der NSU-Akten des hessischen Verfassungsschutzes. Schon seit Jahren fordert sie deren Veröffentlichung. Başay-Yıldız sprach gegenüber der Deutschen Presse-Agentur von einem „Komplettversagen» der Behörden. „Man ist Hinweisen nicht nachgegangen, man hat nichts getan», so die Anwältin.

Tatsächlich fasst dieser Satz gut zusammen, was sich aus den veröffentlichten Dokumenten herauslesen lässt. Im Kern handelt es sich streng genommen um keine NSU-Akten, sondern um zwei interne Prüfberichte des hessischen Verfassungsschutzes. Diese hatte der damalige hessische Innenminister und heutige Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) 2012 in Auftrag gegeben, um die Rolle des Inlandsgeheimdienstes in Bezug auf die Taten des NSU aufzuarbeiten. Für Irritatationen und Spekulationen sorgte, dass die 2014 fertiggestellten Berichte zunächst für 120, nach öffentlichem Druck nur noch 30 Jahre als Geheimsache unter Verschluss bleiben sollten.

Das antifaschistische Recherchekollektiv „Exif» kommt nach einer Durchsicht der Akten zu dem Schluss: „Der Geheimbericht liefert keine Aufklärung und keine Antworten auf die relevanten Fragen rund um die rassistische Terrorserie des NSU. Im Kern ist es nur ein weiteres Zeugnis der desaströsen Arbeitsweise in deutschen Geheimdiensten.»

„Exif» hält einige Punkte dennoch für bemerkenswert. So gehe aus dem Geheimbericht hervor, dass dem Verfassungsschutz Informationen zu Personen und Gruppen aus dem NSU-Umfeld vorlagen, man aber „weder deren Brisanz erkannt noch diese systematisch untersucht hat». So sei es unterlassen worden, bekannte Neonazis genauer zu prüfen und besonders im Hinblick auf ihre Netzwerke zu analysieren. Wörtlich heißt es dazu im Prüfbericht des hessischen Inlandsgeheimdienstes: »Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen.«

Fragen wirft auch der Umgang mit den internen Dokumenten auf. So fiel bei der damaligen Prüfung auf, dass dem Verfassungsschutz insgesamt 541 Aktenstücke aus dem Bereich Rechtsextremismus fehlten. Zehn Jahre später hieß es dann auf Nachfrage von ZDF und „Frag den Staat», die Anzahl der vermissten Aktenstücke sei inzwischen auf 201 gesunken. „Ich befürchte, dass der Verfassungsschutz für 120 Jahre nur geheim halten wollte, was ihm einfach peinlich ist, also eigenes Versagen. Was aber möglicherweise direkt zum NSU und der Arbeit des Verfassungsschutzes in Hessen dazu vorhanden ist, wird nicht als geheim eingestuft, sondern verschwindet einfach», befürchtet Gamze Kubașik. Übertrieben ist diese Vermutung nicht: So ließ am 10. November 2011, nur sechs Tage nach der Selbstenttarnung des NSU, der Referatsleiter des Bundesamts für Verfassungsschutz Akten zu V-Leuten in der Thüringer Naziszene vernichten. Also genau jenes Umfeld, in dem sich das rechtsterroristische Kerntrio aus Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos bewegte. 

Anders als Kanzler Scholz reagiert unter diesen Umständen der linke SPD-Flügel. Das Ausmaß an Vertuschung und Versagen durch Behörden und Politik sei eklatant, kritisiert Lino Leudesdorff, Co-Vorsitzender beim Forum »DL21 – Demokratische Linke«. Die Vereinigung begrüßt die Veröffentlichung der Akten „ausdrücklich». Leudesdorff fordert eine externe Untersuchung und Befragung der Verantwortlichen. Die Akten zum NSU-Komplex sollten „einem Archiv übergeben werden, um eine transparente Aufklärungsarbeit endlich zu ermöglichen«.

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