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Ständige Verwandlung

Eine Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam nimmt das Interesse der Surrealisten an Magie und Okkultismus in den Blick

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 6 Min.
Hier wird etwas zusammengebraut: Leonora Carrington, »Großmutter Moorheads aromatische Küche«, 1975
Hier wird etwas zusammengebraut: Leonora Carrington, »Großmutter Moorheads aromatische Küche«, 1975

Der Surrealismus, in den 1920er Jahren entstanden, war von dem Wunsch nach absoluter Freiheit beseelt. Nach den Schrecken und Zwängen des Ersten Weltkrieges wollte er die Menschen erretten, versprach Erlösung, wenn man nur an sie glaubte. Was hier verkündet wurde, war nicht der Glaube an die Moderne oder gar an die Technik. Die Kunst und das Leben würden sich hingegen nur erneuern können, wenn sie in verbotene Bereiche des Geistes eindrangen – das Unbewusste. Es würde unser Weltgefühl dadurch erneuern, dass es ein Netzwerk von verborgenen Beziehungen offenbare, das sich unter der Oberfläche des Bewusstseins verbirgt. Zufall und Erinnerung, Geheimnisse und Sehnsüchte, Melancholie und Angst, Begierde und Koinzidenz würden in einer neuen Realität – der Sur-Realität, der Überwirklichkeit – zusammenkommen. Das Instrument dazu bot der Traum als eine Metapher für das Unbewusste, das Irreale, aber auch das Magische, Okkulte. In den Träumen sprach das Es, der träumende Geist war für die Surrealisten uneingeschränkte Wahrheit.

In Kooperation mit der Peggy Guggenheim Collection in Venedig zeigt das Museum Barberini in Potsdam nun eine große Ausstellung zur Welt des Traums, der Magie, des Mythos und Okkultismus, wie sie die Surrealisten Bild und Objekt werden ließen. Mehr als 90 Arbeiten von ungefähr ebenso vielen Künstler*innen, Schlüsselwerke, aber auch weitgehend Unbekanntes sind aus internationalen öffentlichen wie auch Privatsammlungen zusammengetragen worden. Schreitet man durch die Ausstellungsräume, entfaltet sich der ganze Zauber surrealistischer Darstellungsweise: Die Figuren sind in ständiger Verwandlung begriffen. Unzählige Metamorphosen und überraschende Begegnungen finden statt, poetische Traumbilder wie auch die Ungeheuer des Unbewussten werden beschworen. Zufall und Kontrolle mischen sich: Aus dem Unbewussten geschaffen, sind gleichsam absichtsvoll gestaltete Formen herausgekommen.

Die Surrealisten diskutierten das Versagen der europäischen Zivilisation. Etwa Giorgio de Chiricos Gemälde »Beängstigender Vormittag« (1912): Erstarrt, leblos, sogar tonlos ist eine Stadtlandschaft, auf der ein Schatten liegt und die Komposition noch weiter verdüstert. Dagegen »Gehirn des Kindes« (1914), ebenfalls von de Chirico: Ein Mann brütet geschlossenen Auges vor sich hin. Was verschließt er in seinem Innern? Der Künstler spricht archetypische, längst vergessene oder verdrängte Erinnerungen an und sucht sie wieder ans Licht zu bringen. Während in Paul Delvaux’ »Anbruch des Tages« (1937) weibliche Mischwesen als heidnische Priesterinnen ihre mythischen Kräfte für die Natur aufwenden, erhebt René Magritte in dem Zyklus »Schwarze Magie« (1945) die Frau auf andere Weise ins Sakrale: ihre versteinerte obere Hälfte taucht er in das Blau des Himmels und des Meeres, ihren Unterkörper gibt er realistisch im Inkarnat wieder. Yves Tanguys okkulte Landschaftsdarstellungen widerspiegeln eine unheilvolle Welt ebenso wie Salvador Dalís »Melancholische Atom- und Uranidylle« (1945), die in Reaktion auf den Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki entstanden ist.

Eine wahre Ikone des Surrealismus ist Max Ernsts »Einkleidung der Braut« (1939): Die Eulenmaske mit ihrem starren Blick und ein purpurrotes Gewand verbergen einen makellosen Frauenkörper. Es ist der damaligen Partnerin des Künstlers gewidmet, der britisch-mexikanischen Surrealistin Leonora Carrington. Der grüne Schwan an ihrer Seite, dient er seiner Herrin oder bedroht er sie mit einem gebrochenen Pfeil? Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 war Ernsts optimistischer Glaube an die menschliche Vernunft gebrochen worden, und so mischen sich hier Motive, Gefühle und Gedanken, Obsessionen und Ängste, seine Beziehung zu Frauen, seine Aggressionen sowie die poetische Vorausschau der furchtbaren Nacht, die über Europa hereinbrach und ihn zur Flucht in die USA zwang.

Auch der Schweizer Kurt Seligmann, der ebenfalls aus Paris in die USA emigrierte – ihm ist ein ganzer großer Raum gewidmet – hat sich immer wieder mit dem Trauma von Krieg und faschistischem Terror auseinandergesetzt. »Teufel und Narr« (1940–43) geht auf das Tarot-Spiel zurück. Den Figuren gibt er eine neue, keineswegs okkulte Deutung: Sorglos schaut der Narr in den Himmel, während ihm der Teufel förmlich schon im Nacken sitzt. Durch das Bild peitschende Stürme können als Metapher für irrationale Triebkräfte, die dem menschlichen Handeln oft zugrunde liegen, gelesen werden.

Die männlichen Repräsentanten des Surrealismus sind uns vielfach wohlvertraut. Dass aber Leonor Fini, Leonora Carrington, Remedios Varo, Kay Sage (es fehlt die Berlinerin Unica Zürn) ein beeindruckendes surrealistisches Werk hinterlassen haben, macht uns diese Ausstellung erst so richtig bewusst. Die Surrealistinnen gingen von der Selbstvergewisserung der eigenen weiblichen Identität und des eigenen Körpers (Selbstbespiegelung) zum Spiel mit Identitäten über. Sie verwandelten sich – keineswegs nur, um dem Wunschbild ihrer männlichen Kollegen zu entsprechen – in schöne Hexen und geheimnisvolle Magierinnen, die den Schlüssel zum Unbewussten und zum Traum in ihren Händen halten. Aber die Frau wird dabei nicht zum Fetisch-Objekt des männlichen Blicks, sie entzieht sich seiner Vereinnahmung. »Spannung« (1936) von Dorothea Tanning: Der anonyme nackte Frauenkörper wehrt die voyeuristisch nur durch ein Augenpaar auf ihn gerichteten männlichen Blicke ab.

Fini und Carrington malen sich selbst, inszenieren sich als mit dunklen Urgründen und geheimnisvollen Kräften im Bunde. Dabei beharren sie, anders als die männlichen Surrealisten, auf der Integrität des weiblichen Körpers, denn eine Zerstückelung oder Fragmentierung wäre einer Selbstzerstörung gleichgekommen. Die Künstlerin ist hier Subjekt und Objekt, Betrachterin und Zu-Betrachtende, Akteurin und Regisseurin zugleich. Finis wie eingefrorene Szenarien entsprechen genau dem konvulsivischen Schönheitsideal der Surrealisten. In der Spanierin Remedios Varos Bild »Himmlischer Brei« (1958) sitzt eine Frau als magisches Wesen eingeschlossen in einem über den Wolken schwebenden Gehäuse und versorgt den in einen Käfig gesperrten kranken Mond mit Sternenbrei – Ausdruck nicht nur für die kosmische Verbundenheit des Menschen, sondern zugleich der Willkür der unkontrollierbaren höheren Kräfte des Universums, denen der Mensch ausgesetzt ist.

Die beiden Amerikanerinnen Kay Sage und Dorothea Tanning waren über eine Liebesbeziehung zu bekannten Surrealisten – zu Yves Tanguy die eine und zu Max Ernst die andere – in deren Kreise gekommen. Es sind isolierte Formen, harte Schlagschatten und illusionistische Perspektiven, die die surrealistischen Gemälde von Sage prägen. Dabei entfaltet sich die Magie aus den Gegenständen selbst. So auch im Gemälde »Morgen ist nie« (1955), in dem trostlos windende, an Leichentücher erinnernde Stoffe in hölzernen Turmgerüsten wie in einem magischen Gefängnis verschlossen sind. Nicht nur Tod und Vergänglichkeit werden hier beschworen (Kay Sages Ehepartner Yves Tanguy war unerwartet an Hirnschlag verstorben), sondern auch das lähmende Gefühl jeder freien individuellen Entfaltung. Mit der klaustrophobischen Szenerie ihrer perspektivisch verzerrten Chirico-Räume fand Dorothea Tanning ihre alle Stilphasen prägenden Themen: Gewalt und Geschlecht, Zivilisation und Rebellion.

Obwohl der Surrealismus als Kunstbewegung schon lange vor 1966, dem Todesjahr seines Begründers André Breton, sein Ende gefunden hatte, hinterließ er einen reichen Schatz an Ideen für die Künstler der folgenden Jahrzehnte. Im Barberini Museum kann man derzeit überraschende Entdeckungen machen, ungewöhnliche Assoziationen herstellen, einen imaginären Dialog zwischen den Zeiten und Welten führen, aber auch Verunsicherungen, Unstimmigkeiten, Befreiungen und Verwirrungen im Leben und Schaffen der Surrealisten nacherleben. Ihr Ideal war eine Schönheit des Seltsamen, des lustvollen Spiels, aber auch der Selbstbehauptung und des fragmentarischen modernen Ichbewusstseins. Diese Selbstbehauptung entstand aus unerwarteten Zusammenstellungen von Worten, Klängen, Bildern, Zeichen, Dingen und Personen – entsprechend dem Leitwort des französischen Dichters Lautréamont: »Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch«.

»Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne«, bis zum 29. Januar, Museum Barberini, Potsdam

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