Zweiter Versuch für Berlin

Die Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl war noch nicht verkündet, da hatte in der Hauptstadt der Wahlkampf bereits begonnen

Hätte die AfD knapp 2000 Stimmen mehr erhalten, so hätte sie jetzt einen Sitz mehr im Berliner Abgeordnetenhaus. Hätten die Grünen 10 000 Stimmen mehr bekommen, so würde es für sie ein zusätzliches Mandat geben und das Landesparlament würde 148 statt 147 Abgeordnete zählen. Bei der FDP hätte schon eine dreistellige Zahl von Stimmen genügt, um die Zusammensetzung ihrer Fraktion zu verändern. Die FDP wäre dann insgesamt nicht stärker im Parlament vertreten. Aber es würde für sie jemand anders Landespolitik machen. Mit solchen Rechenbeispielen begründete Gerichtspräsidentin Ludgera Selting am Mittwoch, warum der Verfassungsgerichtshof der Hauptstadt die Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 26. September 2021 wegen schwerer Pannen flächendeckend für ungültig habe erklären müssen. Die Folge davon: Die Wahl des Abgeordnetenhauses und der zwölf Bezirkszirksverordnetenversammlungen muss wiederholt werden – am 12. Februar soll das geschehen.

Es komme nicht nur darauf an, ob eine ordnungsgemäße Wahl andere Mehrheitsverhältnisse ergeben hätte. Auch andere Sitzverteilungen (siehe FDP) wären von Belang. Im Juristendeutsch oder in Fachchinesisch heißt das: »Für die Mandatsrelavanz gilt der Grundsatz der potenziellen Kausalität.« Will heißen: Es muss nicht wahrscheinlich sein, dass eine Wahl ohne schwere Pannen zu anderen Ergebnissen geführt hätte. Die Möglichkeit genügt schon. Ein Argument gegen eine Wiederholungswahl lautet: Die Ergebnisse hätten sich ja ungefähr mit den Umfragewerten der Parteien gedeckt. Aber wenn man so herangeht, könnte man sich die Spielregeln der Demokratie gleich sparen und durch Meinungsforschung ersetzten. So geht es nicht, äußerte Selting.

Bei der Vorbereitung der Wahl vom 26. September 2021 war riskant auf eine völlig überhöhte Zahl von Briefwählern spekuliert worden. So fehlte es in den Wahllokalen an Wahlkabinen und es bildeten sich lange Schlangen. Stellenweise gingen auch die Stimmzettel aus und konnten nicht schnell nachgeliefert werden. Denn wegen eines Marathons am selben Tage waren zahlreiche Straßen abgesperrt und die Fahrzeuge mit dem Nachschub kamen nicht durch. Stellenweise sind auch fehlerhafte Stimmzettel ausgegeben worden.

Das jetzt gefällte Urteil hatte sich schon Wochen vorher abgezeichnet. Trotzdem ist es ein Paukenschlag und ein »wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte der Wahlen der Bundesrepublik Deutschland«, wie Ludgera Selting sagte. Sie betonte, es habe keine Wahlfälschung und keine andere Manipulation vorgelegen, nur schlechte Organisation. Das Chaos sei auch nicht auf »mangelndes Engagement der rund 38 000 Wahlhelfer« zurückzuführen. Diese hätten alles ihnen Mögliche unternommen, aber gar keine Chance gehabt. So war es nicht zulässig, die vor dem Wahllokal Wartenden noch lange nach 18 Uhr zur Stimmabgabe hereinzulassen. Aber ebenso wäre es unzulässig gewesen, Wählern ihr Wahlrecht zu verweigern, erläuterte Selting. Die Senatsinnenverwaltung hatte in dem Verfahren gemeint, der Verfassungsgerichtshof hätte noch mehr ermitteln und gegebenenfalls Gutachten von Sachverständigen einholen müssen. Das Gericht berief sich aber auf die Auswertung der Niederschriften der 2256 Wahllokale und hielt dies für ausreichend. Das Versagen wurde darin hinreichend offenbar.

Nun ist es, wie es ist. »Wir respektieren die Entscheidung des Landesverfassungsgerichtshofs. Wie angekündigt werden wir als Senat keine Beschwerde gegen die Entscheidung einlegen«, versicherte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD).

Für die Grünen erklärten die beiden Landesvorsitzenden Susanne Mertens und Philmon Ghirmai: »Wir respektieren und akzeptieren das Urteil.« Dieses Urteil sei eine »heftige Klatsche für die Verantwortlichen der letzten Wahl«. Nun müsse die Wiederholungswahl professionell organisiert werden. Innensenatorin Iris Spranger (SPD) trage dafür die Verantwortung. Der Wahlkampf hatte im Grunde schon begonnen, noch bevor das Urteil verkündet wurde. Jetzt nimmt er schnell Fahrt auf. Die CDU lud noch am Mittwoch zu einem Termin am Freitag, bei dem sie einen Ausblick auf ihre Kampagne geben möchte. Es präsentiert sich dazu der alte und zwangsläufig neue CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner. Denn für die Wiederholungswahl werden keine neuen Listen aufgestellt, sondern die alten den Wählern noch einmal zum Ankreuzen vorgelegt.

Während sich die Namen nicht ändern, haben sich die Zeiten sehr geändert. Die Linke will dem Rechnung tragen und mit komplett neu entworfenen Wahlplakaten aufwarten. Die alten Wahlplakate seien wie vorgeschrieben bereits innerhalb einer Woche nach dem Wahltermin abgehängt und bald darauf entsorgt worden, bestätigte Landesgeschäftsführer Sebastian Koch dem »nd«. Wiederverwenden ließen sich also nur die Motive, die erneut gedruckt werden könnten. Das will der Landesverband aber nicht machen. »Die Stimmung in der Stadt ist eine andere, die Sorgen der Menschen sind andere und das muss sich in den Plakaten widerspiegeln«, erläuterte Koch. Das kostet natürlich alles eine Stange Geld. Normalerweise spart der Landesverband fünf Jahre auf eine Abgeordnetenhauswahl hin. Nun ist aber erst ein Jahr vergangen. Man werde »kräftig an die Rücklagen gehen müssen«, sagte Koch. Das sei ein Problem, aber so gehe es anderen Parteien ja auch – falls sie nicht durch großzügige Unternehmensspenden schnell ihre Kassen füllen können. Die Linke wird traditionell mit finanziellen Zuwendungen aus der Wirtschaft nicht überhäuft und will selbst unabhängig davon bleiben. Landesgeschäftsführer Koch sagte es so: »Andere haben Unternehmenspenden, wir haben Überzeugungen.« Nach seiner Einschätzung wird wahlentscheidend sein, welche Partei ihre Anhänger am besten mobilisieren kann. Inhaltlich ist die Kampagne von 2021 nicht völlig überholt. Damals thematisierte die Linkspartei die steigenden Mieten. Heute sind die Energie- und Lebensmittelpreise dazu gekommen.

Für die Wirtschaft kommt die Wiederholungswahl »zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt«. So formuliert es Christian Amsinck von der Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg. Seiner Ansicht nach müsste die Politik alle Kraft darauf konzentrieren, die Gesellschaft und die Firmen durch die Krise zu bringen. »Stattdessen beschäftigt sich die Politik mit sich selbst. Der Wahlkampf und möglicherweise die Bildung einer Regierung sorgen für monatelangen Stillstand«, beklagte Amsinck. So ähnlich Sebastian Stietzel, Präsident der Berliner Industrie- und Handelskammer: Er wünschte sich eine Politik, die »nicht in ideologische Grabenkämpfe oder Wahlkampfgetöse abgleitet«.

Nicht berührt vom Urteil des Verfassungsgerichtshofs ist die Bundestagswahl vom 26. September 2021. Für diese Wahl ist das Gericht nicht zuständig. Nicht wiederholt werden muss der Volksentscheid »Deutsche Wohnen & Co enteignen«. Ob aber voraussichtlich am 12. Februar zeitgleich mit der Wiederholungswahl ein Volksentscheid »Berlin 2030 klimaneutral« stattfinden kann, steht noch in Frage.

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