Lasst euch nicht spalten!

Identitätspolitik ist in der Linken umstritten, ein Kritikpunkt von marxistischer Seite ist die Vernachlässigung der Klassenfrage. Zwei Bücher aus den USA plädieren für eine gemeinsame, antirassistische Klassenpolitik

  • Henning Fischer
  • Lesedauer: 8 Min.
Der schwule Bürgerrechtsaktivist Bayard Rustin (links) und sein Genosse Cleveland Robinson 1963 in Washington D.C.
Der schwule Bürgerrechtsaktivist Bayard Rustin (links) und sein Genosse Cleveland Robinson 1963 in Washington D.C.

Was im Labor unters Mikroskop kommt, liegt nicht immer in unmittelbarer Nähe herum. Man muss sich die Gegenstände, deren Betrachtung vielversprechend ist, hin und wieder aus der weiteren Umgebung heranholen. Das Gleiche gilt für die Gesellschaftskritik: Auch im Fall des hiesigen Streits um Klassen- und Identitätspolitik in der Linken ist es sinnvoll, Anregungen und Erkenntnisse zum Beispiel aus der Sozialgeschichte und der Debatte in den USA unter die »deutsche Lupe« zu nehmen.

Vor Kurzem besprach Keeanga-Yamahtta Taylor, Professorin für African American Studies an der Northwestern University in Chicago, in ihrem Text »Die Niederlage der Identitätspolitik« ein neues Buch des Philosophen Olúfẹ́mi O. Táíwò. Unter dem Titel »Elite Capture« beschreibe dieser, so Taylor, wie ein radikales politisches Konzept, das in den USA der 1970er Jahre entstanden sei, aus den Händen sozialer Bewegungen in den Werkzeugkasten gesellschaftlicher Eliten in Politik, Medien und Wirtschaft gewandert sei. Was die Welt von unten hätte verändern sollen – die Identity politics nämlich –, würde nun, der radikalen Wurzeln und Spitzen beraubt, dafür eingesetzt, den Status quo des patriarchalen und rassistischen Kapitalismus mit diverseren Führungsteams zu verwalten.

Diese Entwicklung deutet Taylor als klare politische Niederlage. Zum Abschluss ihrer Besprechung erinnert sie daher an die ursprüngliche Absicht der identitätspolitischen Strategie: Die unterschiedlichen Unterdrückungs- und Lebenserfahrungen einer vielfach gespaltenen Gesellschaft dienten als Ausgangspunkt für das Bemühen »zu verstehen, wie unsere Unterdrückungen zusammenhängen, und Brücken zu bauen zwischen den unterschiedlichen Kämpfen«. Es könne nicht darum gehen, ein angeblich altes Hauptproblem wie das Klassenverhältnis zugunsten eines angeblich neuen Problems wie den Rassismus des Feldes zu verweisen – oder andersherum. Stattdessen solle man beide als miteinander verbundene Realitäten verstehen und ins Visier nehmen und, wie Bafta Sarbo und Eleonora Roldán Mendívi am 2. November 2022 in »nd.DieWoche« wiedergegeben werden, unter »Anerkennung unterschiedlicher Unterdrückungserfahrungen« als »geeinte Arbeiter*innenklasse« agieren.

Über den Tellerrand der USA

Zu diesem Punkt zitiert Taylor wiederum Barbara Smith, die als Teil des Combahee River Collective an der Entwicklung der identitätspolitischen Strategie beteiligt war. Für Smith ist die Idee, dass sich alle nur um die Probleme ihrer »eigenen« Interessen kümmern sollten – also etwa die Gruppe der Arbeiter*innen um Lohn und Heizkosten und die angeblich davon getrennte Gruppe der Migrant*innen um Rassismus, nur eine »Ausrede«, mit der man der aufreibenden Arbeit aus dem Weg geht, hinter die unterschiedlichen Erfahrungen zu kommen und damit zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Erfahrungen herstellen. Mit dieser »Ausrede« werden die zugegebenermaßen schwierigen Schritte zur Verbindung von sozialen Erfahrungen und sozialen Kämpfen weiter erschwert.

Es ergibt Sinn, diese Überlegungen zu politischer Strategie und gesellschaftlichem Selbstverständnis mit den Ratschlägen eines anderen Buches zu verbinden – nicht zuletzt angesichts der aktuellen reaktionären Mobilisierungen, die durch ihren alltagstauglichen Mix aus Ressentiment, Selbstverleugnung und Hass auf »das Andere« einen deutlichen Vorsprung gegenüber linken Organisierungsversuchen haben. Auch dieses zweite Buch ist in den USA erschienen und behandelt dortige Geschehnisse – die aber als Ergebnis des Zusammenwirkens von kapitalistischer und rassistischer Zurichtung grundsätzliche Bedeutung haben. In »Toward Freedom. The Case against Race Reductionism« untersucht der Historiker Touré F. Reed die sozialpolitischen Projekte der New-Deal-Politik der US-Regierung der 1930er Jahre und die Art und Weise, wie in den Jahrzehnten danach über Armut gesprochen wurde – insbesondere über die Armut der schwarzen Bevölkerung.

Das Buch erschien im Frühjahr 2020, kurz vor der Ermordung von George Floyd und der darauf folgenden Bewegung Black Lives Matter. Reed stellt fest, dass in den sozialen Bewegungen der USA in den 30er und 40er Jahren ökonomische und rassistische Ungleichheit als unterschiedliche, aber zusammenhängende Ergebnisse derselben gesellschaftlichen Realität gesehen wurden. Man war der Ansicht, dass Gewerkschaftsaktivität, höhere Löhne und Sozialprogramme – sofern letztere nicht rassistisch gestrickt waren – vielen Armen und Lohnabhängigen zugute kamen, und damit eben auch denjenigen, die von rassistischen Strukturen in Gesellschaft, Ökonomie und Staat und der dazugehörigen Gewalt betroffen waren.

Für eine antirassistische Klassenpolitik

Die Jahrzehnte des »Kalten Kriegs« ab den 40er Jahren hätten aber, so Reed, die klassenorientierten Teile zunehmend aus dem antirassistischen Programm entfernt. Zum einen wurden sie als kommunistisch verunglimpft, zum anderen verschwanden ökonomische Erklärungen aus dem Gesellschaftsverständnis, das die Ursachen nun in kulturellen Eigenheiten suchte. In der Folge sei eine Idee von antirassistischer Politik entstanden, die, wie in einer kürzlich erschienen Rezension des Buchs formuliert wurde, als Instrumente zur Abschaffung des Rassismus nur noch »Diversität, kulturelle Aufmerksamkeit und Repräsentation« kenne, während zum Beispiel die Forderung nach einem ausreichenden Mindestlohn als überbordend radikal wahrgenommen würde. Als Beispiel für dieses befriedete Gesellschaftsverständnis betrachtet Reed auch die Präsidentschaft Barack Obamas, wie er im letzten Kapitel des Buchs darstellt. In den vorhergehenden Teilen zeichnet er sozial- und politikgeschichtlich nach, wie ökonomische Gleichheit als Ziel politischer Programme verabschiedet wurde, in der Folge kulturalistische und damit auch rassistische Erklärungen für die größere Armut der schwarzen Bevölkerung an Bedeutung gewannen – und wiederum politische Entscheidungen prägten.

Zu den positiven Beispielen einer antirassistischen Klassenpolitik zählt Reed unter anderem eine Arbeitsrechtsgesetzgebung aus dem Jahr 1937, die dazu beitrug, dass die »Brotherhood of Sleeping Car Porters« als erste afro-amerikanische Gewerkschaft einen Vertrag mit einem größeren Unternehmen abschloss. Ein weiteres Beispiel ist die vier Jahre später erfolgte Unterstützung eines Streiks beim Autofabrikanten Ford durch die Bürgerrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colored People). Diese Verbindung führte auch dazu, dass Mitte der 40er Jahre rassistische Strukturen in den Gewerkschaften selbst angegangen werden konnten.

Kulturalisierung von Ungleichheit

In den folgenden Kapiteln zeichnet Reed anhand der Werke des Historikers Oscar Handlin und des Staatssekretärs Daniel Moynihan die Entwicklung einer »Kulturalisierung« von materiell erzeugter Ungleichheit ab den 50er Jahren nach. Zwar sei diese gegen einen biologischen Rassismus gerichtet gewesen. Unter dem Begriff der »Unterschichtsideologie« seien aber die Gründe für gruppenbezogene Armut und den Anteil strafrechtlich verfolgter Erwerbstätigkeiten in den angeblichen »Kulturdefiziten« von ethnisch definierten Menschengruppen verortet worden. Verantwortlich gemacht worden seien dysfunktionale Familien, fehlende Vaterfiguren und mangelnde Bildung, nicht ökonomische Gründe, darunter die Automatisierung der Produktion, die viele nichtspezialisierte schwarze Arbeiter*innen vor die Tür setzte.

Reed stellt der Kritik an der Kulturalisierung auf anregende Weise den positiven Bezug auf andere politische Konzepte dieser Zeit zur Seite. Er erinnert vor allem an Bayard Rustin, den sozialistischen Strategen neben und hinter Martin Luther King, Mitorganisator des »Marschs auf Washington für Jobs und Freiheit« der schwarzen sozialen Bewegungen im August 1963 und einer der wenigen offen schwulen Aktivisten dieser Zeit. Die Forderungen der Großdemonstration, üblicherweise nur für Luther Kings Rede »I have a dream« bekannt, trug Rustin im direkten Anschluss an diese vor. Er forderte unter anderem die Erhöhung des Mindestlohns und »für alle Menschen, schwarz oder weiß, Ausbildung und würdige Arbeit, um Arbeitslosigkeit und Automatisierung zu besiegen«. Gleichzeitig kritisierte Rustin die Forderungen nach »Black Power«, da diese – so paraphrasiert Reed seine hellsichtige Warnung – Gefahr liefen, letztlich nur »afro-amerikanischen politischen und Angestelltenklassen« zum Aufstieg zu verhelfen, letztlich auf Kosten der Mehrheit der »schwarzen Armen und Arbeiter«. In späteren Jahren vertrat Rustin im Übrigen klar antikommunistische Positionen.

Abschließend bringt Reed sein Argument an einem Beispiel der Gegenwart auf den Punkt: »Von Washington D.C. bis zur Bay Area in Kalifornien« seien in den letzten Jahrzehnten langjährige schwarze Anwohner*innen aus ihren Vierteln vertrieben worden – nicht wie in früheren Jahrzehnten mittels »formaler rassistischer Schranken«, sondern durch den dramatischen Anstieg der Preise auf dem Wohnungsmarkt. Die Reaktion auf diese Entwicklung, so Reed, sollte neben der antirassistischen Skandalisierung, dass dieser Verdrängungsprozess anteilig weitaus mehr Nichtweiße treffe, in der Unterstützung aller Menschen in Armut und der unteren Mittelschicht liegen – durch »Mindestlohn, Stärkung der Gewerkschaften, finanzielle Leistungen und einen größeren öffentlichen Sektor«. Das Ergebnis, so Reed, wäre nicht nur eine Verbesserung der Lebenssituation, sondern auch eine Stärkung der sozialen Bewegungen sowie der individuellen und kollektiven sozialen Verteidigung.

Diese Multiplizierung ist wichtig: Taylor, Táíwò und Reed machen deutlich, dass nur eine verbindende Politik Sinn ergibt, die Klassenverhältnisse sowie Rassismus und Patriarchat als Teile derselben Realität wahrnimmt. Wie Reed am Beispiel der neoliberalen Entwicklung von Sozialpolitik und Soziologie in den USA deutlich macht, kann das Rad der Zeit keineswegs bis zu dem Moment zurückgedreht werden, von dem man sich einbildet, es habe noch keine »skurrilen Minderheiten« (Sahra Wagenknecht) gegeben. Das Bild von klaren Verhältnissen, das solche rückwärtsgewandte Nostalgie heraufbeschwört, beruht damals wie heute auf Ignoranz und auf der Reduktion einer vielschichtigen Realität der arbeitenden Klassen.

Aber erst andersherum wird ein Schuh daraus. Wie die hier vorgestellten Autor*innen erklären, ist die neoliberale Feier von Diversität in Führungspositionen zwar kein Grund zur Freude, sondern Symptom einer politischen Niederlage. Das darf aber gerade keine Ausrede sein, sich als linke Bewegung nicht für die Interessen aller Lohnabhängigen und Armen einzusetzen – Interessen, die letztlich als identisch mit der Abschaffung von strukturellem Rassismus und patriarchaler Gewalt zu verstehen sind: »für alle Menschen«, wie Bayard Rustin 1963 sagte. Um das zu begreifen, muss man eigentlich nicht die Sozialgeschichte der USA unters Mikroskop legen. Aber es hilft sicher, mal einem schwulen schwarzen sozialistischen Strategen zuzuhören.

Olúfẹ́mi O. Táíwò: Elite Capture. How the Powerful Took Over Identity Politics (And Everything Else). Chicago 2022.
Touré F. Reed: Toward Freedom. The Case Against Race Reductionism. New York 2020.
Keeanga-Yamahtta Taylor: Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation. Münster 2020 (E-Book, auf Deutsch).
Materialien zum Combahee River Collective sind zu finden unter:
https://combaheerivercollective.weebly.com

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