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Intellektuelle Querfront

Wenn Wissenschaft zum Instrument von Herrschaft wird, braucht es linke Kritik. Wie diese nicht aussehen kann, zeigt ein neuer Sammelband

Wunsch versus Realität
Wunsch versus Realität

In den vergangenen Jahren ließ sich eine bemerkenswerte Verschiebung beobachten: Im sogenannten postfaktischen Zeitalter mit seinen virulenten Desinformationen und Verschwörungsmythen standen viele Linke plötzlich aufseiten des Faktischen. Mithilfe von Wissenschaft und Faktenchecks konterte man Fake News, verteidigte staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und grenzte sich im Namen der Vernunft gegen »Covidioten« und »Schwurbler« ab.

Bemerkenswert ist daran nicht, dass sich Linke für einen solidarischen Umgang mit gesellschaftlichen Krisen und die Abwehr regressiver und rechter Kräfte einsetzen, sondern dass sie das nun im Namen des Bestehenden tun. Dies entspricht einer Art »Mitteruck« der Linken, der gravierende politische Konsequenzen zeitigte: Nun sind es Rechte, die im Namen der Freiheit in den Widerstand gegen den Staat und die Mächtigen gehen, die antiautoritären Impulse der Aufklärung verteidigen wollen und vor allem »kritisch« sind.

Währenddessen verschwindet die Linke ganz real in der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit. Was soll man angesichts dieser Gemengelage tun? Die Ohnmacht führte bei nicht wenigen zu der Übersprungshandlung, dass sie selbst nach rechts, in die Querfront, zur »Freien Linken« oder gleich in den Wahnsinn abglitten. Mit der Rückbesinnung auf feste Überzeugungen oder mit »polemischen« Positionen wollen sie wenigstens noch irgendwo anecken – wenn auch nicht an die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse.

Kritik ist keine Emanzipation

Solche falschen Kritiken am linksliberalen Einverständnis mit den Zuständen zehren vom Fünkchen Wahrheit, dass die Linke ihr kritisches Weltverhältnis aufgegeben hat. Ein Medium dieses Weltverhältnisses ist die Wissenschaft, die nicht umsonst im Zentrum öffentlicher Auseinandersetzungen steht, sei es um Coronakrise, Klimawandel oder Wissenschaftsfreiheit. Daher ist es eigentlich genau der richtige Impuls, sich in der Zwickmühle der progressiven Kräfte auf »Emanzipatorische Wissenschaftskritik« zu besinnen, wie es der gleichnamige Sammelband von Martin Birkner tut. Unfreiwillig führt der Band allerdings die gesamte Tragik dieses Unterfangens vor: Die Kritik an der Herrschaftsförmigkeit der Vernunft reicht gerade so weit, dass Irrationalität wie Widerstand erscheint.

Schon immer zeigen sich an der Wissenschaft solche Widersprüche. Sie war schließlich das Werkzeug der Aufklärung gegen die göttlichen und natürlichen Autoritäten, also ein Mittel zur Freiheit der Menschen, zugleich aber selbst wieder Autorität, spätestens mit Rassenkunde und Eugenik am Beginn des 20. Jahrhunderts. Herausgeber Martin Birkner hat daher recht, wenn er die Auseinandersetzung mit der Wissenschaft als ein Kernanliegen der Linken benennt; »insofern ist die gesamte Geschichte der Arbeiter*innenbewegung und antikapitalistischen Linken auch eine Geschichte von Wissenschaftskritik«. Sein Impuls für das Buch war daher, die Verwicklung der Wissenschaft mit Herrschaft »in Zeiten wissenschaftlicher Eindimensionalität« erneut auf die Tagesordnung der Linken zu bringen.

Birkner schließt damit an den richtigen Grundsatz einer Positivismuskritik an, »dass reine Fakten ohne Interpretation … völlig nichtssagend sind«. Die Wissenschaft als Autorität jenseits gesellschaftlicher Aushandlung anzurufen, ist tatsächlich etwas, gegen das sich die Vernunft zu sträuben hat. Alex Demirović nennt dies im Interview mit Birkner eine »spontane positivistische Philosophie des wissenschaftlichen Wissens«, die zwei Probleme mit sich bringe: Dieser Positivismus leugne, dass Wahrheit eine gesellschaftliche Konstruktion sei und stelle damit die Wissenschaft auf einen elitären Sockel. Demirović ist dabei zumindest klar, dass Widerstand gegen den Herrschaftscharakter der Wissenschaft nicht selbst irrational werden darf. Das führt zu der alten Frage, wie sich denn eine Rationalität ausnimmt, die nicht zugleich wieder Herrschaft reproduziert.

Birkner zieht aus dieser Dialektik allerdings eine problematische Konsequenz. Er wendet gegen die herrschende Deutung ein, dass Wissenschaft möglichst pluralistisch und deutungsoffen verstanden werden müsse. Natürlich hat solche Relativierung kritisches Potenzial, aber sie entspricht auch genau der liberalen Antwort auf das wissenschaftliche Wahrheitsproblem. Mit dieser Vorstellung von Pluralität sei es auch »unmöglich zu sagen«, wie Max Horkheimer in seiner »Kritik der instrumentellen Vernunft« als politische Pointe formulierte, »dass ein ökonomisches oder politisches System, wie grausam und despotisch es auch sei, weniger vernünftig ist als ein anderes«. Weil für Birkner der hegemoniale Diskurs und die »extreme Ausrichtung an mathematisierbarem Wissen« so bedrängend scheint, wird jede Kritik daran schon irgendwie subversiv.

Erneuerung von Wissenschaftskritik

Das Ergebnis dessen zeigt der Sammelband ganz konkret: eine intellektuelle Querfront und das wirre Nebeneinander aus klugen Ansätzen und Irrationalismus. Zu den rationaleren Teilen gehört etwa Frieder Otto Wolfs Gespräch mit der Aktivistin Marie Schubenz, in dem sie der Wissenschaftskritik der Studierendenbewegung der 60er Jahre nachgehen. Diese befand sich schon mitten im Spannungsfeld zwischen Kritik der bürgerlichen Wissenschaften und dem »Übergang zu wirklicher Wissenschaft«. Die auf Herrschaftsverhältnisse und -strukturen abzielende Kritik habe sich dann immer mehr auf die Frage nach Subjektivität oder das Widerstandspotenzial von psychedelischen Drogen und Gegenkultur verschoben. Eine heutige Aufgabe besteht laut Wolf und Schubenz darin, diese widersprüchlichen Tendenzen, die jeweils selbst wieder Probleme erzeugten, zusammenzuführen.

Jedoch sind die Bedingungen der Wissensproduktion und kritischen Reflexion über die vergangenen Jahrzehnte zunehmend prekärer geworden. Demirović reflektiert die Einengung der Freiräume in unternehmerischen Massenuniversitäten als »politische Strategie der Verdummung«, die »für die Herrschenden ein großer Erfolg ist«. Nicht nur sei das Studium der Verwertungslogik angepasst worden, sondern auch Wissenschaftler*innen stünden unter gewaltigem Anpassungsdruck, der kritische Forschung nur im Modus von Kompromissen erlaube. Passend dazu stellt die österreichische IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen zehn Forderungen auf, um die »katastrophalen Zustände der Beschäftigungsverhältnisse« zu überwinden.

Psychoneuroimmunologie und 5G

Solche Analysen und Positionen in »Emanzipatorische Wissensschaftskritik« bieten an sich wenig Neues. Es können also schwerlich jene Beiträge sein, für die sich Birkner in seiner Einleitung bedanken möchte, weil sie im »gegenwärtigen Klima schnell unterstellter Wissenschaftsfeindlichkeit« so »mutig« seien. Das Pathos mutiger Wahrheit prägt derweil eine ganze Reihe von Artikeln des Bandes; Franz Schandl trifft beispielsweise Befunde wie: »der Corona-Modus will nicht nur herrschen, er will absolut herrschen«. Aus solchen rätselhaften Äußerungen spricht eine große Mühe, zu klingen wie Adorno in einem seiner Essays. Aber Schandls Modus der Anspielung bleibt einfach nur Raunen.

Ähnlich widerfährt es Lydia Elmer und Lorena Gulina, die die Alternativlosigkeit der Pandemiepolitik skandalisieren und sich dafür auf die Tradition feministischer Wissenschaftskritik berufen. Von der richtigen Feststellung aus, dass Wissen herrschaftsförmig ist, tendieren die Autorinnen zu der Vorstellung, dass Wissen per se verdächtig sein sollte und »Virologen und Epidemiologinnen die neuen ›Halbgötter‹« seien, die »uns die Medizin einflößen, dass mensch nicht mehr selbstbestimmt die eigene Gesundheit schützen kann«. Ihre feministisch-solidarische Perspektive landet schließlich bei der Stärkung des Immunsystems, alternativer Medizin und ganzheitlicher Heilung.

Dabei wird im Buch ständig betont, dass solche »kritischen« Ansichten mittlerweile immer gleich in die rechte Ecke der Verschwörungserzählungen gestellt würden – um dann Verschwörungstheorien zu referieren. Maria Wölfingseder etwa wehrt sich gegen »mediale Message Control« und »Propaganda« und widmet sich den vermeintlichen Tabuthemen Impfung und Mobilfunk. Sie fantasiert von »Disruption«, einer angeblichen gesellschaftlichen Entwicklung, bei der »jene, die sich nicht schnell genug an die digitalen Entwicklungen anpassen …, unter die Räder zu kommen drohen«. Ihre ganz eigene Version des Great Reset besagt: »Am Trans- oder Posthumanismus wird mit Hochdruck getüftelt«, ob nun durch Impfungen oder 5G-Strahlungen.

Ihr Autorenkollege Christian Schubert liefert das grenzwissenschaftliche Fundament zu dieser Paranoia. Seine »psychoneuroimmunologische Analyse« der Pandemie hält der Schulmedizin und ihrem »maschinenparadigmatischen« Blick entgegen, dass man alles eben auch ganz anders sehen kann. Die »kulturelle Krankheit« sei nicht das Virus, sondern die seelischen Schäden aufgrund der Maßnahmen, wogegen nur eine »neue Kultur des Miteinanders helfe, in welcher Leiblichkeit, Seele, … Spiritualität, Transzendenzverwiesenheit im Mittelpunkt stehen«.

Wer solche linke Wissenschaftskritik hat, braucht wahrlich keine rechten Verschwörungstheorien mehr. Das ist tragisch, überraschend ist es aber nicht. Denn was wirklich aus dem Sammelband zu lernen wäre, ist, dass die Irrationalität, das Raunen und der Verschwörungsglaube einer linken Kritik nicht als Äußeres gegenüberstehen, sondern zu ihr dazugehören. Wenn der Wahn gesellschaftliche Gründe hat, dann macht deren Wirkung auch vor Linken nicht halt.

Dagegen hilft nur Selbstreflexion. Entsprechend wäre die wichtigste Frage einer emanzipatorischen Wissenschaftskritik, die im Sammelband aber nicht einmal aufgeworfen wird: Was ist das Verhältnis linker Kritik zu diesen Wahnformen? Oder, genauer gefasst: Was ist der gesellschaftliche Rahmen, in dem aufgeklärte Kritik in ihr Gegenteil kippt? Eine emanzipatorische Wissenschaftskritik erkennt man nämlich weder am radikalen Gestus noch an der moralischen Position, sondern daran, ob sie es schafft, die gesellschaftlichen Ursachen wahnhaften Denkens zu verändern.

Martin Birkner (Hg.): Emanzipatorische Wissenschaftskritik in Zeiten von Klimakrise & Pandemie. Mandelbaum, 328 S., br., 20 €.

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