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Ein bisschen weniger allein

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete finden mit ehrenamtlichen Vormunden Begleitungen fürs Leben

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 5 Min.

Tawel und Nora kennen sich seit drei Jahren. In den drei Jahren hat Nora Tawel bei einem Fitnessstudio angemeldet, ihn zum Anwalt begleitet, seine Zeugnisse unterschrieben. Denn Nora war Tawels Vormundin. Mit einer sogenannten Einzelvormundschaft übernahm die damals 25-Jährige 2019 das rechtliche Äquivalent elterlicher Sorge für Tawel. Der Jugendliche war mit 15 Jahren aus Guinea nach Deutschland geflüchtet.

Hunderte unbegleitete, minderjährige Geflüchtete kommen jährlich in Berlin an. Sie alle brauchen Vormunde. Meistens werden die vom Jugendamt gestellt. Doch die sogenannten Amtsvormünder übernehmen für bis zu 50 Jugendliche Verantwortung, eine enge Beziehung ist da nicht möglich. Auch Tawel wurde nach seiner Ankunft zuerst an eine Amtsvormundin vermittelt. »Ich habe die in einem Jahr nur einmal gesehen«, erzählt er. Mit Nora trifft er sich fast wöchentlich. Es geht dann nicht nur um bürokratische Dinge. »Sie fragt mich, wie es mir geht, in der WG, wir reden über meine Probleme, und wir finden immer eine Lösung.«

Kennengelernt haben die beiden sich über Akinda, das Berliner Netzwerk Einzelvormundschaften für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Seit 25 Jahren hat das Netzwerk über 1000 dieser ehrenamtlichen Vormundschaften vermittelt, an diesem Freitag feiert es Jubiläum. Ronald Reimann leitet das Projekt des Vereins Xenion. Und er ist überzeugt von dem Konzept. »Wir haben über die Jahre gesehen, dass eine Eins-zu-Eins-Betreuung von einer Person, die das aus Überzeugung und mit Engagement macht, viel mehr bringt.« Die Vision: Alle unbegleiteten, minderjährigen Geflüchteten sollten ein Angebot zur Einzelvormundschaft bekommen. Doch durchschnittlich kommen in Berlin pro Jahr 600 bis 700 Jugendliche an, dieses Jahr sind es laut Akinda über 2600. »Wir bräuchten viel mehr Ehrenamtliche.«

Ehrenamtliche wie Nora. Sie erfährt über ihre Arbeit bei einer Beratungsstelle für Migrationsrecht von Akinda, meldet sich dort, es folgen ein Erstgespräch und mehreren Schulungen. Nach drei Kennenlerntreffen entscheiden sich beide für die Vormundschaft. »Unsere Beziehung war von Anfang an gut«, erzählt Tawel. Sie gehen spazieren oder Eis essen, Nora begleitet Tawel zu seinen Fußballspielen. Und sie denken über seine Zukunft nach. »Wir haben viel über die großen Fragen geredet, ob Tawel zum Beispiel in eine eigene Wohnung ziehen will. Es ging nie darum, dass ich für Tawel entscheide und das dann durchsetze«, sagt Nora.

Ein großes Thema: Tawels Aufenthaltsstatus. »Im April habe ich ›Negativ‹ bekommen«, sagt Tawel, mehr möchte er darüber nicht erzählen. Sie seien jetzt im Klageverfahren gegen die Ablehnung seines Asylantrags, ergänzt Nora. »Diese asyl- und aufenthaltsrechtliche Situation, mit der Jugendliche konfrontiert sind, obwohl sie sowieso schon in einer richtig schwierigen Lage sind, ist schockierend.« Kurz nach seiner Ankunft sei Tawel bei der Berliner Ausländerbehörde allein befragt worden, unter anderem zu seinen Einreisegründen. »Das ist eigentlich gar nicht erlaubt«, sagt Nora. Auch Tawel sagt, dass die Verfahren oft ungerecht ablaufen: »Ein Freund, der war 16, aber die Autorität in Berlin hat ihm 19 Jahre gegeben.« Die Minderjährigkeit werde schlicht infrage gestellt.

Das direkt zu erleben, habe einen großen Effekt auf Vormunde, erzählt Nora. Obwohl sie mit den Ungerechtigkeiten des Asylsystems und Fluchtgeschichten bereits vertraut gewesen sei, habe die Nähe zu Tawel sie noch mal anders bewegt. »Du entwickelst einen großen Respekt dafür, was die Jugendlichen leisten müssen.« Vormunde könnten in diesem Ehrenamt viel lernen: »Wenn man einmal die Missstände gesehen hat, kann man sie nicht einfach so nicht mehr sehen.« 

Während es für Geflüchtete insbesondere aus afrikanischen Ländern nicht leichter wird, nach der Volljährigkeit einen Schutzstatus zu erhalten, werden die Fluchterfahrungen der Jugendlichen immer schlimmer. »Das hat sich merklich verändert«, sagt Ronald Reimann. »Die Wege sind gefährlicher geworden und dauern viel länger. Im Prinzip waren alle Minderjährigen auf der Flucht von Gewalt betroffen, und das hat sich durch Europas Politik der Abschottung verschärft.«

Die große Anzahl unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in diesem Jahr hängt weniger mit dem Ukraine-Krieg als mit der Situation an den EU-Außengrenzen zusammen. Plötzlich durchlässige Fluchtrouten und geopolitische Entwicklungen führen laut Reimann dazu, dass vor allem Jugendliche aus Afghanistan, Syrien und afrikanischen Ländern Deutschland erreichen. In Bezug auf Afghanistan erzählt Reimann etwa von Jugendlichen, die zuvor in der Türkei gelebt hatten. »Aber dort hat sich die Situation für afghanische Geflüchtete so verschärft, dass sich viele gezwungen sahen, weiterzureisen.«

Wie 2015/2016 komme Berlins Aufnahme- und Versorgungsstruktur derzeit an ihre Grenzen, sagt Reimann. »Das Land hat die Strukturen, die damals geschaffen wurden, wieder massiv heruntergefahren, was in der Zwischenzeit bei Jugendhilfeträgern zu Schließungen und Entlassungen geführt hat.« Nach einer Fördermittelkürzung um 20 Prozent Anfang des Jahres hätten sie eine Stelle streichen müssen. »Und jetzt zur Jahresmitte sollten wir ganz schnell neue Fachkräfte finden – was uns zum Glück gelungen ist.«

Im Gegensatz zu staatlichen Strukturen wirken die Ehrenamtsvormundschaften nachhaltig. Mit der Volljährigkeit ist die Vormundschaft zwar offiziell vorbei, die Beziehungen, die Akinda geknüpft hat, leben aber in aller Regel weiter. So auch bei Nora und Tawel. Obwohl Tawel bald 19 Jahre alt wird, stehen die beiden in regelmäßigem Kontakt. Das könnte für Nora so weitergehen. »Solange mich Tawel in seinem Leben haben will, begleite ich ihn gern. Der 18. Geburtstag ändert ja nichts an unserer Beziehung.« 

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