Verloren im Lehrerzimmer

In Berlin mangelt es an Lehrkräften – aber die Universitäten kommen bei der Ausbildung kaum hinterher

  • Marten Brehmer
  • Lesedauer: 10 Min.
Leere Reihen: Verwaistes Lehrerzimmer
Leere Reihen: Verwaistes Lehrerzimmer

Vor dem Interview erreicht Jörg Tetzner noch ein Krisenbericht: Auf einer Toilette an seiner Schule, dem Albert-Einstein-Gymnasium im Neuköllner Ortsteil Britz, wurde Pfefferspray versprüht. »Wir haben das jetzt schon abgesperrt. Kannst du dir das später anschauen?«, fragt ihn ein Lehrerkollege auf dem Schulhof. Tetzner nickt und geht weiter. »Das ist gerade so eine Art Trend. Kommt immer mal wieder vor, hatten wir sogar schon bei einem Abschlussball«, erzählt er weitgehend ungerührt. Er scheint froh zu sein, dass es dieses Mal nur gegen Pissoirs und Waschbecken ging und nicht gegen Menschen.

Die Pfeffersprayattacken sind nur die Spitze. Gewalt, Diebstahl, respektloses Verhalten gegenüber Lehrern – solche Verhaltensdefizite häuften sich, erzählt er. Und: Für die Lehrer werde es immer schwieriger, sie mit pädagogischen Mitteln auszugleichen. Denn in Berlin mangelt es an Lehrkräften, in Neukölln ist die Lage besonders dramatisch. »In manchen Schulen im Bezirk sind nur noch 80 Prozent der Stellen besetzt«, erzählt Tetzner. Er ist seit über 20 Jahren Lehrer für Latein, Philosophie und Ethik in Neukölln, hat schon sein Referendariat an einer Schule im Norden des Bezirks gemacht. »Ich wollte hier auch nie weg«, sagt er. Er ist auch Vorsitzender des Bezirksausschusses des pädagogischen Personals in Neukölln und kennt daher auch die Lage an anderen Schulen.

Bei Personalnot werde als erstes bei sogenannten Zusatzangeboten wie Sprachförderung oder Inklusion gekürzt. Auch die Klassengröße müsse erhöht werden. Für die Lehrer bedeutet das vor allem eines: noch mehr Stress. »Wir sind alle überlastet, klar«, sagt Tetzner. Viele halten das nicht lange durch und wechseln an andere Schulen oder gleich in ein anderes Bundesland. Die häufigen Lehrkräftewechsel schadeten dem Verhalten der Schüler. »Natürlich macht es etwas mit den Kindern, wenn der Klassenlehrer dreimal im Jahr wechselt.« Für die verbliebenen Lehrer bedeute das noch mehr Belastung – ein Teufelskreis. Dabei sei seine Schule noch relativ privilegiert. Als Europaschule erhält das Einstein-Gymnasium zusätzliche Stellen, die von der italienischen Botschaft finanziert werden. Auch die Maturità, das italienische Abitur, kann hier abgelegt werden.

Etwa 1000 Lehrerstellen waren zu Beginn des aktuellen Schuljahres berlinweit nicht besetzt. Dem steht eine Rekordzahl von Schülern gegenüber, mit allein 37 000 Erstklässlern. Das Bevölkerungswachstum um etwa 400 000 Menschen seit der Jahrtausendwende schlägt sich jetzt deutlich nieder. Viele, die zum Studieren in die Hauptstadt gekommen sind, sind geblieben und haben Familien gegründet. Dazu kommen viele Geflüchtete, aus Afghanistan, Syrien oder Irak – und seit diesem Jahr aus der Ukraine.

Der Senat versucht gegenzusteuern. Erst am Dienstag gab es grünes Licht für ein Gesetzesvorhaben der Bildungsverwaltung: So sollen Ruheständler künftig mit Geld zurück an die Schulen gelockt werden. Nach fast zwei Jahrzehnten will Berlin außerdem Lehrkräfte wieder verbeamten. Vor allem bei der Altersvorsorge ist das Dienstverhältnis attraktiver als eine Anstellung. Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) glaubt, dass bis zu 4000 abgewanderte Lehrer so in den kommenden Jahren nach Berlin zurückkehren könnten. »Man kriegt schon mit, dass Leute, die mit dem Gedanken gespielt haben, nach Brandenburg zu ziehen, jetzt bleiben wollen. Aber das reicht niemals aus«, sagt Jörg Tetzner.

Die Hauptlast müssen so die Berliner Universitäten bei der Lehrkräftebildung tragen. 2000 Absolventen in den Lehramtsstudiengängen sollen sie pro Jahr produzieren. So sehen es die Hochschulverträge vor, die das Land Berlin mit den Universitäten geschlossen hat. Bisher sind es knapp unter 1000 Absolventen.

Die Zahl ist über die vergangenen Jahre bereits angestiegen, zuletzt stagnierte sie jedoch. »Wir führen das vor allem darauf zurück, dass die Studierenden schon während des Bachelors an den Schulen arbeiten und weniger Zeit für ihr Studium haben«, sagt Eva Terzer, die Geschäftsführerin der Dahlem School of Education, die Lehramtsstudium an der Freien Universität koordiniert. Sie hat selbst Lehramt studiert, ist dann aber über eine Promotion zu einem didaktischen Thema in der Lehrkräftebildung gelandet. Auf Basis der Studierendenzahlen im aktuellen Praxissemester rechnet sie damit, dass es bereits ab dem kommenden Jahr einen deutlichen Anstieg auf etwa 1400 Absolventen geben sollte. In den Jahren darauf könne man dann bereits an dem anvisierten Ziel von 2000 Absolventen kratzen.

Allein: Es gibt berechtigte Zweifel, ob 2000 Absolventen überhaupt ausreichen werden. »Eigentlich müssten die Schulen zu 110 Prozent besetzt sein«, sagt Jörg Tetzner. So könnten auch Ausfälle durch Krankheit ausgeglichen werden. 3000 Absolventen pro Jahr fordert daher die Kampagne »Schule muss anders«, in der sich auch Tetzner engagiert. Zudem brauche es mehr multiprofessionelle Teams an den Schulen. »Gerade muss man als Lehrer halb Sozialarbeiter sein«, sagt Tetzner. Würden mehr Fachkräfte für Sozialarbeit, Sprachförderung und Technik angestellt werden, könnten sich die Lehrer auf ihre Kernaufgaben konzentrieren.

Eva Terzer hält die Zielmarke von 3000 Absolventen nicht für realistisch. »So viele Leute bewerben sich gar nicht bei uns«, sagt sie. Im Lehramt lasse die Nachfrage nach, so dass es bei vielen Fächern keine Zulassungsbeschränkungen mehr gebe. Zudem habe man Schwierigkeiten, die zusätzlichen Stellen für Dozenten zu besetzen. Das Paradox: Weil das Land versuche, mit finanziellen Anreizen den Lehrerberuf attraktiver zu machen, bewerben sich immer weniger Absolventen auf Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter. »Klar wollen die Leute lieber eine verbeamtete Lebenszeitposition haben, als vier Jahre auf einer befristeten Teilzeitstelle zu promovieren«, sagt sie. Hinzu kommt, dass eine dauerhafte Finanzierungsstruktur fehlt, häufig gibt es nur Geld für befristete Projekte. »Manchmal verliere ich selbst den Überblick über die verschiedenen Förderprogramme.«

Den Mangel spürt auch Claudius Baumann. Er ist bei der Initiative Kreidestaub, in der sich Lehramtsstudierende organisieren. Er hat gerade sein eigenes Lehramtsstudium an der FU mit den Fächern Geschichte und Philosophie abgeschlossen und wird bald ins Referendariat starten. »An der Humboldt-Universität hat sich zum Beispiel die Zahl der Lehramtsstudierenden für Grundschulen verfünffacht, aber die Zahl der Dozenten nur verdoppelt«, rechnet er vor. Die Folge: Überfüllte Seminare, verschleppte Bewertungen von Abschlussarbeiten und schlechte Betreuung. »In den Erziehungswissenschaft-Seminaren wird uns gesagt, dass Bulimie-Lernen nichts bringt – aber die Prüfungen sind dann häufig Multiple-Choice«, sagt er. Darunter leide die Qualität der Ausbildung.

Die ist ohnehin umstritten. »Die Referendare wissen zwar, wie man komplexe Inhalte vermittelt, aber können in der Klasse nicht für Ruhe sorgen«, berichtet Gymnasiallehrer Jörg Tetzner. »Wir wollen, dass die Studierenden nicht das Schema F lernen, sondern auch verschiedene Handlungsmöglichkeiten reflektieren können«, verteidigt sich Eva Terzer. Ihre Kollegen versuchten, praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Theorie zu verbinden. Man analysiere zum Beispiel mit den Studierenden Videos von Unterrichtssituationen zum Umgang mit Störungen oder simuliere Elterngespräche.

Auch Claudius Baumann warnt davor, dass ohne Reflexion schädliche Unterrichtspraktiken tradiert werden könnten, wünscht sich aber trotzdem mehr Berührungspunkte mit Schulen. An der Universität Potsdam gebe es schon im Bachelor-Studium drei Praxismodule. »Da kann sich Berlin etwas abgucken«, sagt er. Besonders stört ihn, dass Diversität und Inklusion zu kurz kommen. »Dabei ist das die Realität in den Klassenzimmern«, sagt er.

In Berlin absolvieren die Studierenden erst im Master ein Praxissemester. Die Studierenden sollen dann 16 Stunden selbstständig vorbereiten und unterrichten. Dazu kommen einzelne Einheiten, die gemeinsam mit Fachlehrern gegeben werden. Die Erfahrungen sollen dann in Seminaren reflektiert werden, zusätzlich muss ein längerer Praktikumsbericht geschrieben werden. Da kommt schnell einiges zusammen. Zumal es für viele Studierende der erste Kontakt mit Schülern ist. »Meine allererste Unterrichtsstunde habe ich sicher 30 Stunden lang vorbereitet«, berichtet Baumann aus seinem eigenen Praxissemester. Vor allem für diejenigen, die neben dem Studium arbeiten oder Angehörige betreuen, werde es dann schnell knapp. Er wünscht sich daher, dass das Praxissemester auch gestreckt werden könnte – oder dass es eine spürbare finanzielle Entlastung während der Zeit gibt.

Auch die Betreuung der Praxissemester-Studierenden an den Schulen läuft nicht immer ideal. Den Lehrern fehlen häufig die Ressourcen, sich mit ihnen auszutauschen. »Wir sehen die dann immer etwas verloren im Lehrerzimmer sitzen, aber keiner hat Zeit, sich um sie zu kümmern«, berichtet Jörg Tetzner. »Man kriegt ja mit, dass alle überarbeitet sind – klar traust du dich dann gar nicht, Fragen zu stellen«, sagt auch Baumann. Ein engagierter Lehrer nahm sich seiner an und unterstützte ihn bei der Unterrichtsvorbereitung. Viele haben dieses Glück nicht.

Die Universitätsdozenten sollen die Studierenden im Praxissemester zwar regelmäßig besuchen, häufig schaffen sie dies aber nicht. Sorge bereitet Eva Terzer eine geplante Änderung der Lehrverpflichtungsverordnung. Die Möglichkeiten, Unterrichtsbesuche auf das Lehrdeputat anzurechnen, könnten eingeschränkt werden. »Dann müssen wir uns komplett umstellen«, warnt sie. In der jetzigen Form könnten die Besuche dann nicht mehr stattfinden.

Selbst wenn die Hochschulen die angestrebten Absolventenzahlen erreichen können, gibt es ein Problem: »Offenbar entscheiden sich viele Absolventen bewusst gegen den Arbeitsort Berlin«, sagt Eva Terzer. Die Arbeitsbedingungen gelten nicht zu Unrecht als schwierig. »Schauen sie nur mal da rüber«, sagt Jörg Tetzner und zeigt auf drei heruntergekommene Bungalows am Rande des Schulhofs. »Die sollen schon seit Jahren abgerissen werden.« Weil die Räume dringend gebraucht werden, werden sie aber weitergenutzt. Unkraut habe sich inzwischen in den Fassaden festgesetzt, die Fenster können nicht mehr geöffnet werden. Herunterfallende Deckenplatten und ausfallende Technik gehörten an vielen Schulen zum Alltag, berichtet Tetzner.

Um die ausbleibenden Fachkräfte auszugleichen, behelfen sich die Schulbehörden mit Notlösungen. Der Anteil der Quereinsteiger, die selbst kein Lehramt studiert haben, wächst immer weiter. Im Regelfall absolvieren sie ein zweijähriges Aufbaustudium, bevor sie in den Schuldienst eintreten. Wenn sie nur ein Fach studiert haben, müssen sie zudem ein weiteres nachstudieren. Dann kann es sogar bis zu fünf Jahren dauern, bis sie arbeiten dürfen. Bildungsforscher fordern daher, auch Ein-Fach-Lehrer zuzulassen. Für Jörg Tetzner wäre das eine Erleichterung: »Lasst die Leute doch auch mit einem Fach an die Schulen«, sagt er. Auch Eva Terzer kann sich das grundsätzlich vorstellen – allerdings nur für weiterführende Schulen. »Gerade Deutsch und Mathematik spielen beim Grundschullehramt eine ganz zentrale Rolle, das betonen auch Experten.«

Größere Sorgen bereiten Jörg Tetzner sogenannte Seiteneinsteiger – also Lehrkräfte, die weitgehend ohne didaktische Fortbildung an den Schulen unterrichten. Unter der Bezeichnung »Lehrer ohne volle Lehrbefähigung« werden sie deutlich schlechter bezahlt und häufig nur befristet angestellt. »Klar sind da auch mal große Talente dabei, aber das ist die Ausnahme«, sagt er. Die Qualität des Unterrichts leide so. In Neukölln machen Laufbahnlehrkräfte nur noch ein Drittel der Neueinstellungen aus, schätzt Tetzner. »Da betreut dann der Quer- den Seiteneinsteiger.« Seiteneinsteiger würden teilweise direkt als Klassenlehrer eingesetzt werden.

Gegen den Lehrermangel formiert sich schon länger auch auf der Straße Protest. Am Samstag ruft »Schule muss anders« zu einer Demonstration am Moritzplatz in Kreuzberg auf, um ihre Forderung nach einer Ausbildungsoffensive zu unterstreichen. Bereits am Tag zuvor hatte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zum Warnstreik getrommelt. Im Forderungskatalog stehen diesmal nicht höhere Löhne – sondern kleinere Klassen. »Für den Senat ist gerade die einzige Stellschraube, dass man die Klassen größer macht«, sagt Berlins GEW-Chef Tom Erdmann am Freitagvormittag, während hinter ihm tröpfchenweise die Streikenden am nebelverhangenen Nordbahnhof eintreffen.

In den Grundschulen sollen, so die Forderung, die Klassen per Tarifvertrag auf 19 Schüler begrenzt werden, in den weiterführenden Schulen auf 24. Für Erdmann sind kleinere Klassen auch eine Frage des Gesundheitsschutzes, weil so die Arbeitsbelastung sinke. Eine streikende Lehrerin in roter Warnweste fordert mit einem selbstgemalten Plakat: »Streik statt Frührente«. Es ist bereits der sechste Warnstreik. Bisher möchte der Senat aber nicht verhandeln. »Die Parteien sollten in ihre eigenen Wahlprogramme gucken, da fordern alle kleinere Klassen«, sagt Erdmann.

Gymnasiallehrer Jörg Tetzner sieht die Forderung nach kleinen Klassen kritisch. »Natürlich wäre das schön, aber da würde man doch den zweiten Schritt vor dem ersten gehen«, sagt er. Er fragt sich, wie es umgesetzt werden soll, dass bei fehlenden Lehrkräften mehr Klassen geschaffen werden sollen. Tom Erdmann beschwichtigt: »Wir wollen das als Stufenplan.« Die Klassengrößen sollen also sukzessive reduziert werden, während parallel die Universitäten mehr Lehrkräfte ausbilden. »Wenn wir im nächsten Jahr im Durchschnitt einen Schüler weniger pro Klasse schaffen, wäre das schon ein wichtiger erster Schritt«, sagt er.

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