Leben im Konjunktiv

Befragungen zum Bürgergeld sagen oft mehr über den Status quo als über die Bedürfnisse der Menschen aus, meint Olivier David

  • Olivier David
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89 Prozent der Langzeiterwerbslosen finden eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes »eher gut« bis »sehr gut«. 65 Prozent der Befragten glauben, dass viele Hartz-IV-Beziehende das System ausnutzen und immerhin 22 Prozent sind der Überzeugung, dass ein Verzicht auf Sanktionen nicht richtig ist. Weitere 22 Prozent sind unentschieden in der Frage.

Das sind die Zahlen einer Erhebung des Instituts InWIS an der Ruhr-Universität Bochum, die im Frühjahr 2022 in acht Jobcentern in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde und im August im Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung erschien. Zuerst einmal zeigen die Daten nur, dass es nicht den Erwerbslosen gibt. Diejenigen, die seit mehreren Jahren Hartz IV bekommen, sind eine heterogene Gruppe, entgegen anders lautenden Vorurteilen.

Olivier David
Olivier David ist Journalist und Autor. Im Februar 2022 erschien sein Buch "Keine Aufstiegsgeschichte", in dem er beschreibt, wie das Aufwachsen in Armut und psychische Erkrankungen zusammenhängen. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. Olivier David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben.

Als Nächstes muss festgestellt werden, dass solche Befragungen viel über den Status quo und wenig über die Bedürfnisse der Menschen aussagen. Wenn die Frage lautet: Wie stehen Sie zur Erhöhung des Hartz-IV-Satzes?, dann ist es logisch, dass beinahe alle (89 Prozent) die Erhöhung von 53 Euro begrüßen. Entwickelt dieser allgemeine Zuspruch zu mehr Geld eine größere Aussagekraft, außer dass das aktuelle Geld nicht reicht? Natürlich nicht.

Solche Arten der Befragungen sind also mit Vorsicht zu genießen. Wie würde die Antwort lauten, wenn die Frage wäre: Regelsätze um 53 Euro oder um 200 Euro erhöhen? Eine Suggestivfrage. Sie macht aber deutlich, dass vielfach mit einem vorgegebenen Deutungsrahmen gearbeitet wird, der mehr über die Intentionen der Fragenden verrät, als dass er tatsächlich Relevantes über die Bedürfnisse der untersuchten Personengruppe aussagt.

Dafür lässt sich allerdings etwas anderes herauslesen: Die Menschen, die in der aktuellen Situation von der Politik im Stich gelassen werden, sind auf ein Leben im Konjunktiv festgeschrieben. Da hätte man gerne mehr Geld, man hat es aber nicht. Da würde man gerne mal Urlaub machen oder die gestiegenen Energiepreise bezahlen oder überhaupt mit dem Essen bis zum Monatsende auskommen – aber nichts da. Hätte, würde, könnte, als Lebensprinzip. Apropos Würde: Die ist gar nicht so leicht zu behalten, wenn es an die Fragen des täglichen Bedarfs geht.

Armutsbetroffene sind in ihrer Lebensrealität aufs Träumen und Hoffen festgelegt, weil der Lebensalltag als armer Mensch in Zeiten multipler Krisen allzu oft aus Mangelverwaltung und sozialem Rückzug besteht. Zu offensive Pläne straft das Schicksal lügen, so wenig haben sie mit den Realitäten armer Menschen zu tun.

Oft bleibt die Angst vor dem weiteren Abstieg, die sich in die Körper und Gedächtnisse und darüber auch in den Alltag Armutsbetroffener einschreibt, stark. Bis sich manche aus Angst vor Enttäuschungen selbst ihre Träume und Hoffnungen verbieten. Jede Rückzugsbewegung von der Welt ist als doppelte zu verstehen: Einmal verkleinert sich der Handlungsradius, aber auch der innere Radius, der der Gedankenwelt, wird limitiert – und damit auch die Erlaubnis, sich an der sozialen Welt und ihren praktischen Fragestellungen zu beteiligen.

Denkt man diesen unteren Teil des Eisberges der Armut mit, wird klar: Natürlich wollen Betroffene eine Verbesserung von 53 Euro haben. Natürlich bewerten Armutsbetroffene die leichte Verbesserung als positiv, eben weil sich der Würgegriff des Sozialstaats lockert. Minimal, aber es lässt einen eben gleich wieder hoffen. Was, wenn ich diesen Monat, so wie die anderen Monate zuvor, doch hinbekomme?

Diese Zusage zur einfachen Verbesserung schafft jedoch keinen von Grund auf zufriedenen Menschen. Das Bürgergeld in seiner jetzigen Ausprägung ist, was es ist: Ein bisschen weniger scheiße als vorher. Man braucht auf sozialen Netzwerken nur dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen folgen, um mit den Nöten und Realitäten armer Menschen konfrontiert zu werden: Essen als rares Gut, Strompreiserhöhungen, abgesagte Weihnachtsfeste – das sind die Lebensrealitäten, die unsere Politik produziert. Ob unter dem Label Hartz IV oder unter seiner vermeintlich progressiven Alternative, dem Bürgergeld.

Lilli ist armutsbetroffen
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