• Sport
  • 95. Geburtstag von Heinz Florian Oertel

Löwe mit Bienenfleiß

Der deutschen Sportreporterlegende Heinz Florian Oertel zum 95. Geburtstag

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Spiel darf alles. Spiel ist eine Erlaubnis, die von der Romantik ausgestellt wurde. Schiller war am euphorischsten: Erst im Spiel sei der Mensch – ein Mensch. Dichters Wort schlägt Brücken zu Heinz Florian Oertel, dem Virtuosen des Wort-Spiels, der gesprochenen Sportreportage. Im Rundfunk aus der Nalepastraße, im Fernsehen aus Adlershof. Ja, sein Stil schillerte, und Oertel schillerte mit. Kein Berichterstatter, ein Ereignis-Erzähler. Pralle Blumigkeit. Einprägsam und sorgfältig kultiviert: der sonor schwingende, brummende, summende, fast singende, vokalsatte und „r»-rollende Ton. Viel Pathos und Predigt, ein bisschen Kunst und manchmal Kitsch.

Ja und? Was ist gegen Kitsch zu sagen? Er ist Totalopposition gegen das dröge Reale, er offenbart die Kraft der Selbststeigerung, und das ist Lebens schönste Gabe, es ist das Gegenteil von unser aller ebenmäßiger Lappigkeit. Oertel, ständig in Bewegung, ruhte im Selbstbewusstsein des außergewöhnlichen, des vom Glück besonnten Charakters. Besonntheit durch Besonderheit. Sein journalistischer Traum muss die empathische Gesellschaft gewesen sein; journalistische Information war ihm Rohstoff für Sätze ganz aus Freundlichkeit. Freundlich sein: im härtesten Wettkampf, beim unerbittlichen Konkurrieren.

Er glänzte sich in alles hinein, was es ihm erlaubte, ein Vorkommnis zu sein. Er balancierte mit Worten, als spiele er mit Bauklötzern – und setzte sie gern auf Kante. Wo sie einstürzten, wuchsen mitunter Wiesen aus Stilblüten. Aber auch dies war ein Beitrag zur Vielfarbigkeit der Welt. Besser allemal als die Staubtrockenflächen all der Journalustlosen. Er war eine Erzählspielmaschine: immer aufgezogen, stets mit gespannter Sprungfeder. „Man kann auch ohne eigenes fülliges Haupthaar gegen den Strom schwimmen», sagte er lächelnd. Seine Präsenz nötigte andere dazu, ihr Mittelmaß zu gestehen. Das nehmen Mittelmäßige gern übel.

Oertel hat sie boxen, schießen, laufen, springen sehen. Teofilo Stevenson und Manfred Wolke, Pelé und Johan Cruyff, Lasse Viren und Carl Lewis, Bob Beamon und Ingrid Krämer-Gulbin. Katharina Witts „Carmen» auf dem Eis löste im stets so unverwandt Beredten nur einen einzigen Wunsch aus: „schweigen, schweigen, schweigen«. Und dann sprudelte es. Sein erstes, frühes Buch hieß: „Mit dem Sportmikrofon um die Welt». Er war Millionen DDR-Bürgern ein Stellvertreter-Marco-Polo. Er betrat für uns die Kontinente. Die einen waren dankbar, die anderen neidisch, die dritten voll Groll. Wer ihn sehr mochte, war übrigens Rudi Dutschke – der ebenfalls Sportreporter werden wollte.

Auch Oertel sprach von DDR-Sportlern als »Diplomaten im Trainingsanzug«. Aber das war nicht nur der Slogan eines angestrengt um Anerkennung ringenden Staates, nein, das riss mit, das nährte unsere natürliche Nähe zur Verehrung; das erzeugte bei vielen Menschen eine Identifikationslust, die derart aufbauend war, dass man den Machthabern in Gelassenheit gestattete, die Begeisterung der Bevölkerung als pures ideologisches Bekenntnis misszuverstehen. Lang her. Inzwischen hat das Prinzip Großereignis vielfach seine Attraktion eingebüßt. Der Sport als nationalstaatliche Bewusstseinsformung leidet längst an einem chronischen Schwächeanfall; überhaupt scheint es dem allgemeinen Leistungsstreben unmöglich geworden zu sein, ungebrochene Gefühle zu erzeugen.

Schöne Wahrheit: Begeisterung setzt Sprache unter Drogen; manchmal ist der Rausch das einzig Richtige. Tanz über Rasenflächen und Laufbahnen: die Oberfläche zwar Sport, der Untergrund aber Kunst. Bei Oertel klang das so: „Man möchte sich an den Zeiger der Geschichte hängen, um die Uhren anzuhalten!» So sein Jubelruf, als Waldemar Cierpinski 1976 in Mexico-City zum ersten Mal Marathon-Olympiasieger wird. »Liebe junge Väter vielleicht oder angehende, haben Sie Mut: Nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar!« Der berühmteste Satz aus jener Live-Reportage, da Cierpinski 1980 in Moskau zum zweiten Mal den olympischen Marathon gewinnt.

Oertel trug über der Schulter lässig das unsichtbare Säckchen, gut gefüllt mit dem Zucker, den er dem Affen gern gab. Ein Komödiant im schwelgenden Bewusstsein seiner Schaustellung. Den Beton der Propaganda betrat er wie ein Trampolin. Sein Bienenfleiß summte Shakespeare: „Lasst mich den Löwen auch noch spielen.» Er war der Weltmann im Winkel. Der Conferencier im Parteisprachenkonvikt. Der den Berliner Neujahrslauf erfand und überhaupt ein beredter Anwalt des Breitensports war – was erfolgssüchtigen Hochfunktionären des Deutschen Turn- und Sportbundes nicht unbedingt gefiel.

1927 wurde Oertel in Cottbus geboren, geriet als Matrose in britische Kriegsgefangenschaft. Schnellkurse prägten damals den Weg in den Frieden: Schauspieler, Lehrer, Reporter. Er wird ab 1952 Kommentator nahezu aller internationaler Sporthöhepunkte. Ist 17-mal „DDR-Fernsehliebling». Moderiert den „Kessel Buntes», führt durch die populäre Radiosendung „He, he, he – Sport an der Spree». Und durch TV-Schlagershows. Singt selber. Am Wehmutstropf des Schlagers hängt er wie an einem Turnseil. Und über 250-mal hieß es in Adlershof: „Porträt per Telefon» – Oertel als Talk-Gastgeber. Er schrieb Kolumnen in der „Lausitzer Rundschau», in der „Berliner Zeitung», in der „BZ am Abend». Ein Leben ganz nach der Philosophie des Feuilletonisten Erich Friedell: Im Dilettanten vereinen sich Künstler und Mensch. Mittenmang der Wissenschaftler: Dr. rer. pol. Oertel.

Er polarisierte, mit Plauderei, die sich auch mal patriotisch übernahm. Sein Jubel trug Schwarzrotgold mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz. Sein Überschwang wollte das Kunststück: die Fahne am liebsten noch an die Wolken nageln! Das alles bis zum 31. Dezember 1991: Im Berliner Rundfunk, 18 Uhr, liest er letztmals die Sportnachrichten. Abpfiff ohne Verlängerung. Nach dem Ende der DDR traf auch ihn die Erfahrung aller Zeitenwechsel: Es wollten plötzlich weit weniger gejubelt haben, als man eben noch ohrenbetäubend hörte. Aber Oertel verwandelte seine Verwunderung, wohl auch Verletztheit, nie in Bitternis. Stil bleibt Stil. Er schrieb Bücher: „Pfui Teufel», „Gott sei Dank», „Halleluja für Heuchler» – Pamphlete gegen Moral- und Sprachversagen einer kalten, kalkülgierigen Gesellschaft.

Siege haben ihren guten Ruf verloren, an das, was sie verdirbt: die Finanzen, das Doping, den Lobbyismus – und an die Hand, welche die andere wäscht, bis sich Schmutz in Gold verwandelt. Man nennt das gern hinterhältig: saubere Verhältnisse. Aber dennoch wird es weiterhin den Freudefuror am Leistungssport geben, und das ausschweifend Bacchantische möge der Menschennatur nicht auszutreiben sein. Denn Erlebnisse funktionieren nicht, wenn man seiner Begeisterung ständig vorwurfsvoll ins Gemüt fällt und also aufhört, vernunftlos zu träumen.

Sport ist solch ein beglückendes vernunftloses Träumen: Schlachten und Kämpfe sind im Wettkampf Worte, die dem Frieden gehören, nicht mehr dem Krieg, desgleichen Begriffe wie Sieg und Niederlage. Sport ist und möge gutmütiges Vertrauen darauf sein, dass es zwar Starke und Schwache gibt, sich aber auch ohne Darwinismus was entwickelt.

Heinz Florian Oertel, Reporterlegende des 20. Jahrhunderts, beherrschte sein Handwerk und dazu noch eine Herzenskunst: Gewinner so zu preisen, dass auch das Seltene gleichberechtigt mitschwang, nämlich das Lob des Letzten, nein, noch schöner und noch seltener: das Lob des Vorletzten. An diesem Sonntag wird HFO, ein großer Letzter, Erster seiner Zunft, 95 Jahre alt.

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