Eine Frage der Zeit

Berliner Jugendprotest in der DDR und heute: Ein ehemaliges Mitglied der Umwelt-Bibliothek zieht Bilanz

Konnten im Ostberlin der 80er Jahre einiges bewirken: Tim Eisenlohr (ganz rechts) und weitere Mitglieder der Umweltbibliothek
Konnten im Ostberlin der 80er Jahre einiges bewirken: Tim Eisenlohr (ganz rechts) und weitere Mitglieder der Umweltbibliothek

In einem Alter, in dem sich nur die wenigsten für Politik interessieren, trifft Tim Eisenlohr eine Entscheidung, die sein Leben verändern wird: Gerade mal zwölf Jahre ist der gebürtige Ostberliner alt, als er 1985 bei den Thälmann-Pionieren austritt. Gegenwind, so erzählt er »nd«, sei ihm schon damals vor allem von der Schulleitung entgegengeschlagen. »Es gab viele Menschen, die ungestört vor sich hinleben konnten, und viele von ihnen haben das einfach nicht verstanden.« Wenn der 49-Jährige an seine Zeit in der DDR zurückdenkt, spricht er von »Leidensdruck«. Es sei die Reisefreiheit gewesen, nach der er sich gesehnt habe, und die Möglichkeit, wählen zu gehen. »Dinge, die in der Verfassung der DDR festgeschrieben waren, aber nie eingelöst wurden.«

Auch die Berliner Jugend von heute kennt Druck, wenn auch in anderer Form. Die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine, der Mangel an Zukunftsperspektiven: Junge Menschen sind auf eine so unmittelbare Weise mit politischen Debatten konfrontiert wie schon lange nicht mehr. Die Jugend ist gezwungen, tätig zu werden – und sie wird es: Fridays for Future mobilisiert Massen auf den Straßen der Hauptstadt, die Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation machen mit kontroversen Aktionen auf sich aufmerksam.

»Ich beneide die heutige Jugend überhaupt nicht um ihren Widerstand«, sagt Eisenlohr, der sich seit Jahren mit Formen des modernen Klimaaktivismus auseinandersetzt und Fridays for Future solidarisch gegenübersteht. »Im Gegensatz zu ihnen hatten wir damals etwas, an dem wir uns gezielt abarbeiten konnten.« Die Zusammenhänge seien komplexer geworden, die mediale Resonanz sei eine vollkommen andere. Nach wie vor gilt für den Zeitzeugen allerdings die Unterscheidung der Menschen in zwei Gruppen: »Es gibt diejenigen, die etwas verändern wollen, und diejenigen, die sich mit dem privaten Leben zufrieden geben. Das war damals so wie heute.«

Den Drang, aktiv zu werden, habe er zum ersten Mal verspürt, als er neun gewesen sei, sagt Eisenlohr. Auslöser sei eine Ausstrahlung der Ende der 70er Jahre produzierten US-Miniserie »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss« gewesen, natürlich im Westfernsehen: »Damit fing es an, dass ich mich für alles verantwortlich fühlte, das um mich herum vorging.« Er habe nicht begreifen können, warum Menschen anderen Menschen so viel Leid zufügten. Eisenlohr spricht von einem »großen schwarzen Loch des Bösen« und vom »Fluch der späten Geburt«. Immer wieder habe er sich darüber geärgert, nicht selbst am Kampf gegen den Faschismus beteiligt gewesen zu sein.

Eisenlohr liest anschließend viel über den Nationalsozialismus, stößt letztlich auch auf die NS-Jugendorganisation, die sogenannten Pimpfe. Schließlich habe es bei ihm – bis dahin halbwegs überzeugter Jungpionier und dann Thälmann-Pionier – klick gemacht. Zwar sei er nie auf die Idee gekommen, die DDR-Jugendorganisation mit der der Nazis gleichzusetzen, sagt Eisenlohr. Aber: »Die Uniformität, ähnliche Leitbilder, Widerspruch ist nicht so erwünscht. Das hat mich total irritiert und ich fing an, Fragen zu stellen.«

Der Ärger, den sich der Heranwachsende mit seiner kritischen Haltung schon vor seinem Austritt aus den Thälmann-Pionieren einhandelt, macht ihn noch misstrauischer. Dabei habe er sich als Kind gerade mit den in der DDR hoch gehaltenen Werten des Antifaschismus oder auch der Solidarität durchaus identifizieren können, sagt Eisenlohr. »Wer weiß, vielleicht hätte ich mich anders entschieden, wenn die anders reagiert hätten.« So habe der Druck letztlich dazu geführt, dass er als Zwölfjähriger in seinem Beschluss bestärkt worden sei.

Aus dem Thälmann-Aussteiger wird in den folgenden zwei Jahren ein politisch selbstbewusster Jugendlicher: »Mit 14 wusste ich schon so viel, was in der DDR schief lief, dass es vollkommen egal gewesen wäre, was man mir erzählt hätte oder wie man versucht hätte, mich zu überzeugen.« Eisenlohr zieht es in die Opposition, genauer: zur 1986 gegründeten Berliner Umweltbibliothek (UB), von deren Existenz er in einem Jugendlager der evangelischen Kirche erfahren hat: Im Gemeindehauskeller der Zionskirche am gleichnamigen Platz in Mitte sammeln Systemkritikerinnen und Systemkritiker Schriften, die in der DDR verboten sind. Mit den »Umweltblättern« entsteht eine oppositionelle Flugschrift, auch konspirative Treffen finden im Keller statt.

Während der Aktivismus der UB weitgehend im Verborgenen stattfinden sollte, suchen Fridays for Future und die Letzte Generation ganz bewusst die große Bühne. Das Internet mit seiner Reichweite und den sozialen Netzwerken stellt einerseits eine große Chance für politisch Engagierte dar. Andererseits birgt es Gefahren: Hasskommentare und Drohungen sind keine Seltenheit, auch Privatadressen von Aktivistinnen und Aktivisten werden bisweilen im Netz veröffentlicht.

Eisenlohr bleibt der Hass im Netz als Jugendlicher erspart, logischerweise, anderes dafür nicht. Er ist einer der Jüngsten in der UB, als die Stasi im November 1987 eine Razzia in der Zionskirche durchführt. Der 14-Jährige wird verhaftet und acht Stunden lang verhört. »Man hat sich engagiert und es dafür mit der Staatsgewalt zu tun bekommen«, sagt er. Doch mit der Razzia beginnt die Gruppe, die Wirkung ihres eigenen Tuns wahrzunehmen und zu begreifen. Menschen solidarisieren sich mit der UB und ihren Mitgliedern. »Wir haben gesehen, dass der eigene Widerstand vielen hilft, sich zu trauen, das zu tun, was sie sich bisher nicht getraut haben.«

Genau das sei letztlich auch das Ziel gewesen, sagt Eisenlohr: »Wir wollten eine breitere Wirksamkeit bekommen, wollten Menschen mitnehmen, die eigentlich gar nicht im selben Spektrum waren.« Genau hier sieht er einen entscheidenden Unterschied zur Letzten Generation, zu ihren Klebeaktionen auf den Straßen, in Museen. Die Gruppe verspüre zwar offensichtlich das Bedürfnis, die Mitmenschen wachzurütteln, treffe aber oft die Falschen, anders als bei Blockaden von Atomkraftwerken oder Castor-Transporten. »Sie haben sich da in einer Sache verrannt«, sagt Eisenlohr. Die Bewegung sei zu sehr auf sich selbst fokussiert, müsse reflektierter agieren. »Ich weiß nicht, warum sie sich nicht einfach größere Ziele nehmen.«

Verständnis für die Aktivistinnen und Aktivisten kann Eisenlohr trotzdem aufbringen. Dass der ausbleibende Erfolg im Kampf für das Klima frustriere, sei nachvollziehbar. »Es braucht einfach mehr Zeit, auch bei uns ging das immer nicht so schnell«, sagt Eisenlohr und predigt Ausdauer. Das hohe Tempo, das eigentlich vonnöten sei, lasse sich mit den zähen demokratischen Prozessen eben nur schwer vereinbaren.

Ältere Generationen bittet Eisenlohr darum, nicht auf moderne Protestbewegungen herabzuschauen. Jugendlicher Aktivismus neige seit jeher dazu, hier und da übers Ziel hinauszuschießen – »und das ist auch gut so«. Auch in der UB habe man mit Regeln gebrochen, obwohl dies stärker geahndet worden sei. Die Rufe nach härteren Strafen für die Letzte Generation kann er nicht nachvollziehen. »Diese Reaktionen sind vollkommen fehlgeleitet und überzogen. Diese Leute mit der RAF zu vergleichen, ist letztlich nur ein Vorwand, um von der eigentlichen Thematik abzulenken«, führt Eisenlohr aus. Gerade in Bezug auf die politische Bildung Jugendlicher sieht der Zeitzeuge viel Positives: »Die jungen Leute sind viel leichter darauf anzusprechen, weil es sie mittlerweile auch selbst betrifft. Das ist eigentlich etwas, was auch 20 Jahre politische Bildung nicht erreichen würden.«

Eisenlohr selbst bleibt bis zum Sommer 1989, als er mit seiner Familie nach Westberlin ausreist, in der Umweltbibliothek aktiv. Nach dem Mauerfall engagiert er sich bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, wendet dem Aktivismus dann aber den Rücken zu. Ihm habe, sagt Eisenlohr, zwischenzeitig die politische Heimat gefehlt. Das Erstarken des Nationalismus in Europa und die Klimakrise bringen ihn schließlich doch dazu, wieder tätig zu werden. Heute ist Eisenlohr in verschiedenen Demokratieprojekten tätig – und in »einer eigenen kleinen Hilfsorganisation«.

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