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  • Shakespeare und Clowns

Ein Seil ist eine Mauer

Was tun im Wartezimmer Geschichte? Zum Beispiel »Hamlet« spielen, wie die Clowns der Compania Sincara in Leipzig

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 4 Min.
Man muss Prioritäten setzen, auch bei »Hamlet«: Dietzmeyer, Erben, Oehler im Spiel mit dem Spiel
Man muss Prioritäten setzen, auch bei »Hamlet«: Dietzmeyer, Erben, Oehler im Spiel mit dem Spiel

Ein Geist geht um im Lande Dänemark: Das Gespenst der »Zeitenwende«. Es ist noch unentschieden, ob es neuen Wind bringt oder doch nur das Alte heraufbeschwört. Noch lässt der Wandel auf sich warten. Mit baumelnden Beinen sitzen die drei Clowns Waldemar, Eusebius und Kerbel auf der Bank und fragen sich: Was tun im Wartezimmer der Geschichte? Die Zeit ist aus den Fugen, da können sie auch »Hamlet« spielen. In drei Sätzen ist das Drama um den dänischen Zauderer zusammengefasst, dann folgt wesentlich Unwesentliches. Die Clowns spielen Pfosten, Wachen und einen dreiköpfigen Prinzen – und vor allem mit der Theatersituation.

Die Compania Sincara spielt »Hamlet« frei nach Shakespeare. Während in früheren Szenarien Truffaldino, Brighella, Dottore und Pantalone Geschichten mit Akrobatik und Komik erzählten, begegnen nun dem Publikum drei neue Zeitgenossen: Kerbel, mit Waschbrett vor dem Bauch und Kegelhut, springt schelmisch-frisch über die Bühne, im Reifrock schwebt Eusebius in Tippelschritten und in Waldemar steckt noch etwas vom oberlehrerhaften Pantalone. Hinter den weichen, ausgepolsterten Strumpfmasken, aus denen ein paar Haarbüschel ragen, verstecken sich die Spieler*innen Felicitas Erben, Ronja Oehler und Rico Dietzmeyer, der in der gemeinschaftlich arbeitenden Compagnie Regie und Szenarium übernahm.

Gleichberechtigt spielen die Musiker Jakob »Paul« Dinkelacker und Paul Pötsch mit den Clowns. Das Sammelsurium verschiedenster Klänge und Instrumente untermalt die Handlung und beeinflusst ihren Takt. Sägende Saiten, Kinderflöten und expressive Drum-Solos verstärken die Komik und liefern eigene Pointen. Musik und herzerweichende Volkslieder verstärken noch den episodenhaften Charakter des Abends, der im Vortrag des Brecht-Songs »Vom ertrunkenen Mädchen« und der »Ballade von den Seeräubern« von Ernst Busch den ironisch-pathetischen Höhepunkt erlebt.

Über große Illusionen oder Einfühlung können die drei auf der Bühne der Diskothek des Leipziger Schauspiels nur lachen. Ein Bühnenbild gibt es nicht, nur einen braunen Vorhang im Hintergrund und ein Seil, das links von der Decke hängt. Der neugierige Kerbel zieht daran und schon rollt Meter um Meter herab. Angeführt durch Bauleitung Waldemar entsteht daraus ein Burggrundriss, der Wachturm und Wurstkeller nachzeichnet. Im Wechselspiel nehmen die Figuren das Seil als Mauer ernst, dann übertreten sie wieder die selbstgesetzte Fiktion und gehen durch Wände. Dass die vierte Wand gar nicht erst gezogen wird, steht außer Frage. Im offenen Spiel mit dem Publikum lehnt sich das Leipziger Theaterkollektiv sowohl an Brecht als auch an die Theaterpraktiken der Commedia all’improvviso an.

Im Theater sitzt man nicht vor einem Schlüsselloch, heißt es in Brechts »Messingkauf«. Wenngleich dieses Wissen zwischenzeitlich verloren ging, im Londoner Globe Theater lärmte noch ein selbstbewusstes Publikum. So bemerkt auch Benno Besson: »Das gesamte Shakespearesche Instrumentarium ist darauf ausgerichtet, die Zuschauer, das heißt, die Realität des Theaters ins Spiel zu bringen. Und im Theater gibt es nur eine Realität: die Zuschauer, die im konkreten Augenblick da sind, die leben, die heranwachsen und reifen und altern, bis sie schließlich vergehen.« Das sterbende Publikum bezeugt im »Hamlet« ein Spiel mit dem Tod und wendet sich trampelnd und klatschend gegen den aus dem Jenseits wiederkehrenden König.

Statt sich mit Nebensächlichkeiten wie einer Handlung zu befassen, geben die drei Maskenfiguren in Leipzig ihre liebsten Todesszenen zum Besten. Ganz oben steht das Spiel im Spiel, in dem der Mord an Hamlets Vater dem Täter Claudius vorgeführt wird. Hinter gespanntem Tuch setzen sich Kerbel und Waldemar falsche Nasen auf und stellen, angeleitet von Hamlets schauspielerischem Leitfaden, das Geschehen nach. Zügelung von Gebärde und Emotion sind die Maßgaben des Fachfremden, die jedoch in einer komischen Übersetzungsszene erst entschlüsselt werden müssen: vom elisabethanischen Englisch, in Fantasie-Deutsch zu einem beiläufigen Verstehen. Übermäßiges Lachen sollte es unter Hamlet’scher Regie nicht geben. Der junge Prinz weiß, wo er seine Prioritäten setzt.

In ihrem uneigentlichen Umgang mit großer Weltliteratur, gespickt mit politischen und theaterhistorischen Anspielungen, bleibt die Compagnia ihrer Haltung zum Stoff treu. Das Drama muss dem Spiel mit dem Spiel weichen. Zugleich hat sich das Leipziger Kollektiv im Rahmen der Konzeptionsförderung »Im Dreiklang für Leipzig« weiterentwickelt. Ihre neuen Maskenfiguren verselbstständigen sich stärker gegenüber den italienischen Vorbildern und lassen auch auf eine komische Bearbeitung von »Wie es euch gefällt« oder »Was ihr wollt« im Sommer nächsten Jahres hoffen.

Nächste Vorstellungen: 16.12., 17.12. , 20 Uhr, Schauspiel Leipzig/Diskothek

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