Werbung
  • Kultur
  • »Frieden, Liebe und Death Metal«

Das Leben nach dem Bataclan

In »Frieden, Liebe und Death Metal« reagieren zwei Menschen unterschiedlich auf ein Trauma

  • Gaston Kirsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Ramón und Céline sind nach dem Terror gemeinsam einsam.
Ramón und Céline sind nach dem Terror gemeinsam einsam.

»Ich bekam 23 Mal: ›Man muss nach vorne schauen!‹« – »Das und ›Das Leben geht weiter‹ zählen nur halb.« Zu viert stehen sie auf dem kleinen Balkon und lesen sich in einem surrealen Wettstreit Kurznachrichten von ihren Mobiltelefonen vor: »Hört mal zu, ich toppe alle, ist von meinem Chef: ›Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.‹«

Zu viert lachen sie, zu viert waren sie, zwei Paare Mitte dreißig, einige Zeit zuvor im Konzertsaal Bataclan. An einem Freitag im November – es sollte ein netter Abend werden, die Eagles Of Death Metal spielten, gute Stimmung. Bis zum Überfall. Am Abend des 13. November 2015 drangen drei mit Kalaschnikows und Sprengstoffwesten bewaffnete Dschihadisten in das Bataclan ein, schossen im großen Konzertsaal wahllos auf Konzertbesucher*innen und warfen Handgranaten in die Zuschauermenge. 89 Menschen wurden im Bataclan ermordet, Hunderte wurden dort verletzt.

Der Film »Frieden, Liebe und Death Metal« spielt vor diesem realen Hintergrund. Er beginnt damit, wie zwei sichtlich geschockte Konzertbesucher*innen in goldene Erste-Hilfe-Rettungsfolien gehüllt einen Boulevard entlanggehen. Ein Linienbus fährt vorbei. Darin sitzen, in sich zusammengesunken oder versteinert aus dem Fenster schauend, weitere in goldene Rettungsfolien gehüllte Menschen.

Es ist eines der vielen starken Bildmotive in dem Film. Die Kamerafrau Irina Lubtchansky hat meistens halbnahe Bildausschnitte gewählt, geht an die Hauptpersonen ran, Straßenszenen werden oft aus Fenstern von Bistros heraus gefilmt, das Sichtfeld ist meist beschränkt. Hier aber wählt sie eine der seltenen Totalen. Es sind viele, die an diesem Abend vom Terror getroffen wurden, die Islamisten zielten auf das kosmopolitische, lebenslustige Paris, auf die Metropole.

Die meiste Zeit sind Ramón und Céline, die beiden Hauptpersonen des Filmes, zu zweit oder alleine in ihrer schönen, 60 Quadratmeter großen Altbauwohnung zu sehen, wo sie sich vom Bad bis ins Wohnzimmer miteinander unterhalten. Das Paar wird intensiv gespielt von Nahuel Pérez Biscayart und Noémie Merlant. Sie tragen den Film, ihre ausdrucksstarke Mimik und Gestik wird nah gezeigt. Der Regisseur Isaki Lacuesta lässt sie die Traumatisierungen von Ramón und Céline fein ausspielen. Dennoch gibt es längliche Passagen, in denen die Handlung zu zerfasern droht. Dem entgegen wirkt die Verschränkung mehrerer Zeitebenen, aber der Film bleibt dabei oberflächlich.

Dieser Text schildert den Film auch nicht chronologisch, changiert aber nicht wie dieser auf vier Erzählsträngen hin und her: Ramón und Céline kommen zusammen, der Abend vor dem Terroranschlag, das Massaker im Bataclan, das Weiterleben danach. Kurze Flashbacks des Überfalls, der Panik, des stundenlangen Ausharrens im Versteck in der Garderobe, während von draußen dumpf die Schüsse zu hören sind, wurden in die Handlung hineingeschnitten.

Wie unterschiedlich, nahezu gegensätzlich Ramón und Céline versuchen, das Geschehene zu verarbeiten, wird bei dem eingangs beschriebenen Zusammensein zu viert auf dem Balkon deutlich. Das befreundete Paar Carlos (Quim Gutiérrez) und Lucie (Alba Guilera) und auch Ramón lesen sich gegenseitig die Kurzmitteilungen vor, während Céline kurz einwirft: Sie hätte keine bekommen – weil sie niemandem davon erzählt habe, im Bataclan gewesen zu sein. Die anderen drei sind verwundert, befremdet, auch Ramón. Aber Céline beharrt darauf, dass sie sich von den Terroristen nicht unterkriegen lasse, dass sie ihr bisheriges Leben weiterführt.

Außerdem habe sie im Konzertsaal gar nichts gesehen, sei gleich in den Seitenraum geflüchtet. Die Wäsche kommt am nächsten Tag gleich in die Maschine, die Rettungsfolien in den Müll. Sie geht zur Arbeit als Betreuerin in einer Wohngruppe für Jugendliche aus desolaten Verhältnissen: »Ich werde gebraucht.« Ramón dagegen hat Panikattacken, nimmt sich bei der Arbeit im Büro erst frei, dann kündigt er den nervigen Job und übergibt die Unterlagen für irgendeine geschäftliche Fusion an seine Vorgesetzten. Er sei ja auch gut ersetzbar, meinen die. Ramón lächelt gequält. Er will das Leben genießen, fängt wieder an, im Proberaum Musik mit einer Band zu machen.

Céline fühlt sich ausgenutzt – ständig müsse sie Ramón aufbauen, und wenn er mal gut drauf sei, gehe er mit anderen Leuten weg. Mit vielen Tränen und Verzweiflung steht die Trennung im Raum. Beide sind überfordert von ihrer Traumatisierung. Céline schleppt Ramón zur psychologischen Beratung. Schnell einen Termin zu bekommen, ist wundersamerweise kein Problem. Céline geht aber nicht mit zum Gespräch rein. Die Szene, die dann folgt, ist eine der stärksten des Filmes: Ramón redet nicht nur in Andeutungen, wie gegenüber Céline, sondern es bricht aus ihm die ganze Verzweiflung heraus, die Ängste, wieder bedroht zu werden, die Schuldgefühle, sich nicht gewehrt zu haben.

»Ich habe einem der Attentäter ins Gesicht gesehen. Damit wache ich auf, schlafe ich ein, andauernd sehe ich ihn vor mir.« Die Psychologin hört aufmerksam zu, sagt nur: »Hier bist du in Sicherheit.« Und: »Schreib deine Erlebnisse auf, um dich anderen mitzuteilen.« Daraufhin weckt Ramón Céline mitten in der Nacht, weil er sich an ein Detail nicht mehr erinnert. Sie, schlaftrunken und erschöpft von der Arbeit und auch davon, zu verstecken, dass sie ein Opfer ist. Er, ohne Rücksicht auf seine Freundin mit seinem Schreibeifer die Verzweiflung überspielend: »Wurde zuerst der Notausgang oder die Garderobe geöffnet?« Sie sagt, sie erinnere sich nicht.

Beide sind ineinander verhakt, überfordert von ihrer Traumatisierung – und alleingelassen. Von Hilflosigkeit umgeben. Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn für die Bewältigung von Traumata so viel weniger getan wird als für die Aufrüstung von Polizei und Militär gegen Islamismus? Diese Frage stellt der Film leider nicht, er zeigt etwas unstrukturiert, wie Ramón und Céline irgendwie weiterleben. Wie Nichtschwimmer, die sich durch Strampeln über Wasser halten. »Nicht nach unten sehen«, sagten die Polizisten auch zu Céline im Film bei der Evakuierung der Überlebenden aus dem Bataclan, denn auf dem Boden lagen die Leichen.

»Frieden, Liebe und Death Metal« (Un Año, Una Noche), Spanien/Frankreich 2021. Regie: Isaki Lacuesta. Mit: Nahuel Pérez Biscayart, Noémie Merlant, Quim Gutiérrez, Alba Guilera. 130 Min. Start: 15.12.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal