Die Suche nach dem Omikron-Ursprung

Neue Studien setzen auf unterschiedliche Antworten zur Frage, wie sich die heute dominierende Variante eigentlich herausbildete

Die Omikron-Variante des Coronavirus Sars-CoV-2 wird intensiv erforscht. Auch wenn ständig neue Subtypen auftauchen, herrscht Einigkeit in der Fachwelt: Omikron führt deutlich seltener als frühere Varianten zu schweren Erkrankungen. Doch eines ist im Dunkeln: Wo kam der Gamechanger der Pandemie so plötzlich her? Die Frage ist deshalb spannend, da sich Omikron sehr stark von allen vorher dominierenden Varianten unterscheidet. Gegenüber dem Wildtyp gibt es 32 Mutationen allein im Spike-Protein – dem Stachel, mit dem das Virus an der Körperzelle andockt.

Das erste Mal sequenziert wurde Omikron am 9. November 2021 in Südafrika, wo später auch die erste Ausbreitungswelle registriert wurde. Da aber nicht allzu viele Länder intensiv Coronaviren sequenzieren (können), sagt die Entdeckung nichts über die tatsächliche Herkunft aus. Auch deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation geografische Bezeichnungen für Viren aus dem Verkehr gezogen und behilft sich bei Corona jetzt mit griechischen Buchstaben.

Erstaunlicherweise ignorierten auch einige Fachleute diesen Fakt und überlegten zunächst, was Südafrika besonders macht: eine hohe Anzahl an Aids-Kranken – da müsse es doch einen Zusammenhang mit dem Omikron-Auftauchen geben. Vor allem weil die Medien nach schnellen Antworten riefen, was zulasten einer seriösen Aufklärung ging, wurde rasch eine plausibel erscheinende These präsentiert: Das Virus könnte sich in einem immunsupprimierten Patienten über lange Zeit entwickelt haben und in diesem mutiert sein. Dies könnte erklären, warum ein Omikron-Vorläufer Mitte 2020 zum letzten Mal gesichtet wurde und dann ein Jahr lang von der Bildfläche verschwand.

Dies ist theoretisch möglich. Mittlerweile gibt es bestätigte Fälle von Personen, die über viele Monate corona-positiv waren. Dagegen spricht aber der evolutionäre Anpassungsdruck: Omikrons Besonderheiten sind die schnellere Ausbreitung und die optimierte Fähigkeit, den Immunschutz nach Infektion oder Impfung auszutricksen. Bleibt das Virus in einem immunsupprimierten Kranken, wird es pathogener, aber schnelles Überspringen von Mensch zu Mensch oder Immunflucht sind nicht wichtig. Der Berliner Virologe Christian Drosten erklärte schon Ende 2021, die gesamten Erfahrungen mit Influenza- und anderen Viren sprächen gegen diese Theorie.

Drosten tendierte zu einer anderen Hypothese: dass sich das Virus unter Bewohnern einer abgelegenen Gegend mutierte, deren Infektionsgeschehen unter dem Radar blieb. Die Autoren einer kürzlich im Fachblatt »Science« veröffentlichten Studie der Charité-Universitätsmedizin Berlin erweitern diese These noch und glauben, belegen zu können, dass sich Omikron über langen Zeitraum in West- und Ostafrika länderübergreifend entwickelte. In der extrem aufwendigen Arbeit mit Dutzenden Kooperationspartnern wurden Proben von über 13 000 Covid-19-Patienten aus 22 afrikanischen Ländern mittels eines eigens entwickelten PCR-Tests auf Omikron getestet – mit einigen positiven Treffern. Die Forscher konstatieren, dass »im August 2021 in ganz Afrika bereits genetisch unterschiedliche Omikron-Vorfahren existierten«. Hauptautor Jan Felix Drexler von der Charité erklärt, dass diese »sich miteinander mischten und zur selben Zeit und über Monate hinweg in Afrika zirkulierten«. Er spricht von »Schnappschüssen davon, wie das Virus aussah, als es Omikron erreichte«.

Die Ergebnisse stellen bisherige Erkenntnisse zum Coronavirus auf den Kopf, entsprechend groß ist die Skepsis in der Fachwelt. Kann es wirklich sein, dass Omikron über einen derart langen Zeitraum in so vielen Ländern übersehen wurde? Es gibt Zweifel an der Grundlage des PCR-Tests. Auch folge das beobachtete Evolutionsmuster nicht einer sequentiellen Reihenfolge, was zu erwarten wäre, wenn sich das Virus im Laufe der Zeit allmählich entwickelt hätte, sagte Joel Wertheim, Molekularepidemiologe an der University of California, San Diego, in der Zeitschrift »Nature«. »Das sieht nicht nach einer Sars-CoV-2-Evolution aus, sondern nach einer Sars-CoV-2-Kontamination.« Auch andere Experten mutmaßen, dass bei den fünf Proben, deren Gensequenz auch komplett entschlüsselt wurden, andere Viruspartikelchen aus dem Laborraum hineingeraten sein könnten.

Auch zur dritten gängigen These, laut der der Omikron-Vorläufer auf eine Tierart übersprang, in der das Virus mutierte, bis es viel später optimiert wieder beim Menschen ankam, gibt es eine recht neue Studie, publiziert im US-Fachmagazin »Proceedings of the National Academy of Sciences«. Forscher der University of Minnesota untersuchten, wie gut Teile des Spike-Proteins von Omikron an Zellen von Mäusen »andocken« können. Ergebnis: »Die Omikron-Mutationen in der rezeptorbindenden Region sind strukturell an das Angiotensin-umwandelnde Enzym 2 (ACE2) der Maus angepasst.« Will heißen: Omikron zeichnet sich durch maus-spezifische Mutationen an der wichtigen Rezeptorbindungsstelle aus.

Die Forscher sind bezüglich ihres Ergebnisses erheblich zurückhaltender als die Berliner Forscher und schreiben, ihre Studie könne zum Verständnis des Ursprungs der Omikron-Variante und der Evolution von Sars-CoV-2 beitragen. Ihre Botschaft ist ohnehin eine andere, wie es einer der Autoren, der Virologe Fang Li, erläutert: »Die Übertragung von Coronaviren vom Tier auf den Menschen wird wahrscheinlich weiterhin eine Bedrohung für die globale Gesundheit darstellen.«

Die US-Studie ist natürlich nicht mehr als ein Hinweis, dass die Hypothese eines tierischen Zwischenwirts zutreffen könnte. Und auch die These der Mensch-zu-Mensch-Übetragung in einer abgelegenen Region bleibt auf dem Tisch. Und selbst wenn die Entstehung in einem immunsupprimierten Menschen unwahrscheinlich ist, heißt das nicht ganz unmöglich. Vielleicht war es aber auch ganz anders. Womöglich wird man es nie mit letzter Sicherheit wissen.

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