»Das alles wird es ohne Frieden nicht geben«

Judith Braband über Oppositionarbeit in der DDR, linke Denkverbote und die Hoffnung auf Veränderung

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 7 Min.
Judith Braband hat die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung noch nicht aufgegeben.
Judith Braband hat die Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung noch nicht aufgegeben.

Frau Braband, Sie sind eine der fünf Protagonist*innen, die im Film »Rise Up« als Menschen vorgestellt werden, die die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Veränderung noch nicht aufgegeben haben. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erfahren haben, dass Sie ausgewählt wurden?

Interview

Judith Braband, geborene Jutta Czichotzke, wuchs in Stralsund auf und war ab 1975 in linksoppositionellen Gruppen der DDR aktiv. Nach einer Unterschriftensammlung gegen den Ausschluss kritischer Schriftsteller aus dem Schriftstellerverband wurde sie 1980 zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Bis März 1990 vertrat sie die Initiative Vereinigte Linke (VL) am Zentralen Runden Tisch. Bis April 1992 war sie parteiloses Mitglied der Fraktion PDS-Linke Liste im Bundestag. Nach ihrem Ausscheiden war sie Geschäftsführerin des Berliner Kulturhauses Acud sowie Mitglied und Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung Haus der Demokratie.

Ich war überrascht. Nachdem ich das Exposé gelesen hatte, war ich elektrisiert: endlich eine größere Chance, der Erzählung von »Mauerfall und friedlicher Revolution mit dem Ziel der Wiedervereinigung« meine Sicht auf das Geschehen hinzuzufügen.

Sie waren zunächst Mitglied der SED. Wann war für Sie der Punkt erreicht, an dem Sie nicht mehr mitmachen wollten?

Nach meinem Ausstieg bei der Stasi 1975, der ja bereits eine politische Entscheidung gewesen ist. Da habe ich in langen Diskussionen mit Freund*innen verstanden, dass nicht die Staatssicherheit das Grundproblem war – das war ja eine Behörde –, sondern die Verfasstheit und das Gebaren der Staatspartei SED. Nicht ihr Ziel, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, das wollte ich immer noch. Aber mir wurde klar, dass es auf diesem Weg nicht zu erreichen war. Dabei hat mir nicht nur geholfen, mit anderen die allgemeine Lage in der DDR zu erörtern, sondern im Nachhinein betrachtet ebenfalls die beiden Parteiverfahren, die ich hatte, zu analysieren. Ich habe verstanden, dass ich nicht einfach nur ungerecht behandelt wurde, sondern dass das ein System war, jegliche Kritik zu unterdrücken mit dem Verweis auf den »Klassenfeind«. Deshalb habe ich anlässlich meiner Verhaftung im September 1979 meinen Austritt erklärt.

Im Film sagen Sie: »Wir hätten 1989 die Machtfrage stellen müssen.« Wer ist dieses Wir und was ist damit gemeint?

Wir, das waren die Bürger*innenbewegungen der DDR, durch deren Aktionen alles in Gang gekommen ist und zunächst in den Zentralen Runden Tisch der Regierung, der bestehenden Parteien und Massenorganisationen sowie der oppositionellen Gruppen mündete. Außer der Initiative für eine Vereinigte Linke (VL) haben alle bestehenden Bürger*innenbewegungen an der »Regierung der nationalen Verantwortung« teilgenommen. Wir hatten im Januar 1990 noch die Leute auf der Straße hinter uns – überall im Land wurde an Runden Tischen gearbeitet, Stasibehörden wurden besetzt, in manchen Betrieben, sogar in der Armee und in den Gefängnissen bildeten sich Selbstverwaltungsräte. Da war noch ein Generalstreik drin. Diesen Prozess hätten wir vor allem befördern müssen. Damit das Gespräch darüber, wie wir leben und arbeiten wollen, in der ganzen Gesellschaft auf gleicher Augenhöhe hätte stattfinden können.

Sie sagten im Filmgespräch, dass Sie sich ein neues 1989 wünschen. Was denken Sie, wenn heute die AfD und andere Rechte die Parole ausgeben, sie wollten 1989 vollenden?

Das ist einfach widerwärtig, vor allem, weil es zuerst von einem nationalsozialistischen Agitator der AfD aus dem Westen propagiert wurde. Die Ostler*innen, die darauf hereinfallen, würde ich aber in zwei Gruppen teilen. Da sind zum einen die, die auch wirklich eine rechte Gesinnung haben. Und zum anderen die, die es tatsächlich ernst meinen, aber vielleicht vergessen haben, dass Solidarität mit allen Menschen, Emanzipation und Antikapitalismus wichtige Säulen unserer Selbstermächtigung waren. Und beides ist mit der AfD nicht zu haben.

Als linke DDR-Oppositionelle wollten Sie keine kapitalistische Wiedervereinigung. Wann wurde Ihnen klar, dass die Entwicklung 1989 in diese Richtung gehen würde? Und wo sehen Sie Fehler der Linken in der DDR?

In der Nacht der Maueröffnung habe ich geheult, weil ich sofort ahnte, dass viele Menschen in der Folge damit beschäftigt sein würden, den Westen zu erkunden, anstatt sich um die Entwicklung der DDR zu kümmern. Als Vereinigte Linke haben wir es am Ende nicht vermocht, mehr Menschen hinter der Idee einer zu revolutionierenden DDR zu versammeln. Insbesondere haben wir es versäumt, Frauen mit ihrer Forderung nach Gleichstellung der Geschlechter und der Abschaffung des ältesten Unterdrückungverhältnisses unserer Welt so zu unterstützen, dass sie die VL als verlässliche Partnerin erleben konnten.

Im Dezember 1990 kandidierten Sie als Parteilose auf der Liste der PDS für den Bundestag. War die Kooperation mit der ehemaligen DDR-Staatspartei kein Problem für Sie?

Ich war als Mitglied der VL Teil des Wahlbündnisses Linke Liste, das gemeinsam mit der PDS als PDS-Linke Liste für den Bundestag kandidiert hat. Es gab in der PDS viele Menschen, mit denen ich arbeiten konnte, weil sie emanzipatorische Ideen vertreten haben. Einige von ihnen waren auch Mitglieder der VL. Ich hatte die kleine Hoffnung, dass die Partei die Kraft haben würde, sich selbst durch Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte neu aufzustellen. Das war wirklich nötig für die Partei selbst und ihre Attraktivität für die außerparlamentarische Linke. Außerdem wurde im westlichen Parteiensystem dringend eine linke Partei gebraucht. Ich selbst habe meinen Teil in der Bundestagsfraktion dazu beitragen wollen. Der Fehler, meine Mitarbeit bei der Stasi und die Gründe dafür erst spät im September 1991 öffentlich bekannt zu machen, hat dazu geführt, dass ich diese Position verloren habe und mein Rücktritt vom Mandat unausweichlich war. Lediglich die Fraktion zu verlassen, wäre das falsche Signal gewesen.

Sie betonen, dass Sie weiter für eine sozialistische Revolution kämpfen. Im Film sieht man Sie aber im Garten und nicht auf Demonstrationen. Kann das als Zeichen des Rückzugs interpretiert werden?

Das ist mein Zuhause seit vielen Jahren und es hat mich nie daran gehindert, politisch aktiv zu sein. Und da sind auch Demonstrationen eingeschlossen. Meine politische Hauptarbeit hat in den letzten 30 Jahren darin bestanden, außerhalb von Parteien und Parlamenten Räume zu schaffen und zu erhalten, in denen Menschen frei sind, sich zu bestimmten brennenden Themen zu organisieren und ihre eigenen Projekte verwirklichen zu können. Außerdem nutze ich gern jede Gelegenheit, um über unsere Ziele von 89 zu sprechen und darüber, warum sie nicht eingelöst sind.

Wo sehen Sie heute angesichts von Krieg und Krise Möglichkeiten linker Intervention?

In der Unterstützung derjenigen, die sich diesem Krieg auf beiden Seiten verweigern. In der Solidarität mit allen Geflüchteten. Im Kampf für die sozialen Menschenrechte, die sowohl eine gesunde Umwelt als auch ein Recht auf Arbeit, Wohnung, Bildung und Gesundheitsschutz einschließen – und zwar weltweit. Ich bezeichne das als Friedensarbeit. Denn das alles wird es ohne Frieden nicht geben.

Aktuell klagen Sie über linke Denkverbote. Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Die linke Bewegung hatte immer schon das Problem, dass sie sich über Einzelfragen auseinanderdividiert und das große Ganze nicht gemeinsam in den Blick genommen hat. Aktuell sehe ich aber noch eine Verschärfung des Problems und der Debatte. Während der Corona-Pandemie konnten wir beobachten, dass auch linke Projekte in vorausseilendem Gehorsam staatliche Maßnahmen ungeprüft übernommen haben und Kritik daran regelmäßig mit einem bösartigen Shitstorm beantwortet wurde. Schlimmer noch finde ich jetzt die Art der Diskussionen über die Haltung zum Krieg in der Ukraine und die Unterstützung, die angemessen und notwendig ist. Die Fokussierung auf Waffenlieferungen für die Ukraine und das Embargo gegen Russland hat nicht nur die Friedensbewegung gespalten. Aber wer heute behauptet, die Losung »Frieden schaffen ohne Waffen« sei veraltet und überholt, der unterschlägt alles Wissen über Kriege und deren Nutznießer auf der einen und deren Opfer auf der anderen Seite. In Vergessenheit geraten dabei auch die vielen Möglichkeiten, die es seit 1990 für eine Verständigung über die jeweiligen Sicherheitsinteressen – vor allem in Europa – gegeben hat.

Trotz aller Niederlagen weiterkämpfen – das könnte der Faden sein, der sich durch den Film »Rise Up« zieht. Was gibt Ihnen Mut zum Weiterkämpfen?

Ich bin eine alte Aufklärerin und glaube daran, dass wir Menschen etwas lernen und wiedererlernen können. Wir haben jetzt einige tausend Jahre unseren Verstand benutzt, um unsere Welt zu zerstören. Und dabei haben wir vergessen oder verlernt, dass Empathie und Wohlwollen ein großer Teil unserer Menschwerdung gewesen sein muss. Weil wir sonst nicht überlebt hätten. Heute sind wir am anderen Ende angekommen und es gibt viel mehr Menschen, die das erkennen und empfinden. Darauf setze ich.

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