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Zu wenig Sorge für sich selbst
Eine aktuelle Studie widmet sich dem vernachlässigten Thema Männergesundheit
Die spezifischen physischen und psychischen Probleme von Männern sind erst seit kurzer Zeit Gegenstand gründlicher empirischer Forschung. Deutlich wird dabei: Die rigiden Erwartungen an das angeblich starke Geschlecht stellen ein erhöhtes Risiko für das allgemeine Wohlbefinden dar. Während sich Ansätze einer »weiblichen Perspektive« auf die Medizin bereits vor der Jahrtausendwende etablierten, entwickelte sich diese Perspektive bezüglich des Mannes erst mit erheblicher Verzögerung. Immerhin wurde soeben der mittlerweile schon fünfte »Deutsche Männergesundheitsbericht« vorgelegt – wie bewährt herausgegeben von der regierungsunabhängigen und spendenfinanzierten Stiftung Männergesundheit und vom Gießener Psychosozial-Verlag als Buch veröffentlicht.
Den Schwerpunkt bildet diesmal das Thema »Junge Männer und ihre Gesundheit«, im Kontrast zum Vorgängerbericht 2020, der sich auf ältere Männer in der Übergangsphase vom Beruf zur Rente konzentriert hatte. Im Zentrum der neuen Untersuchung steht eine umfangreiche Datenerhebung durch das Münchner Forschungsinstitut Kantar Public. Die beteiligten Wissenschaftler*innen befragten auf repräsentativer Basis über 2000 junge Männer zwischen 16 und 28 Jahren; vergleichend wurden auch über 1000 Frauen in diesem Alter interviewt. Als zentrale Erkenntnis hält das Herausgeber*innen-Team um Klaus Hurrelmann, Kurt Miller und Gudrun Quenzel fest, dass »Gesundheitsbewusstsein, Gesundheitsverhalten und Gesundheitsstatus der jungen Männer mit ihrer jeweiligen Vorstellung von der männlichen Geschlechtsrolle verbunden sind«.
Selbstschädigung bei Frauen steigt
Im ersten Teil des Buches wird dieser Befund mit zahlreichen Details unterfüttert. So fühlen sich Männer in ihrer Eigenwahrnehmung häufig gesünder als Frauen, obwohl diese Einschätzung mit der statistisch erfassten Häufigkeit von Krankheitsbildern nicht übereinstimmt. Das herkömmliche Verständnis von Männlichkeit führe zur »Vernachlässigung der Selbstfürsorge«. An diesem Punkt seien Männer »nicht sonderlich sensibel«, resümiert Sabine Wolfert, Projektleiterin bei Kantar Public. Als Beispiele aus ihrem Datenpool nennt sie die viel ausgeprägtere männliche Spielsucht, die geringere Achtsamkeit nach Sport oder Partys für körperliche Erholungsphasen sowie den erheblich höheren Konsum der Rauschmittel Alkohol und Cannabis. Beim Rauchen liegen beide Geschlechter hingegen inzwischen nahezu gleichauf. 70 Prozent der Befragten qualmen übrigens gar nicht (mehr), ein im Vergleich zu früheren Erhebungen deutlich gestiegener Wert. Frauen hätten jedoch in der jüngeren Generation »bei negativen, sie schädigenden Verhaltensweisen aufgeholt«, konstatiert Kurt Miller von der Stiftung Männergesundheit.
Wie in den einst von Rainer Volz und Paul Zulehner verfassten Männerstudien im Auftrag der großen christlichen Kirchen, bedient sich der aktuelle Bericht einer Typologie. Vier Varianten von Männlichkeit sollen die Vielfalt der Rollenbilder beschreiben. Die Studie unterscheidet maskulin dominante Männer (24 Prozent der Befragten), auf Gleichberechtigung fokussierte (30 Prozent), partnerschaftlich orientierte (28 Prozent) sowie rollenambivalente Männer (19 Prozent). Mit höherer Bildung und steigendem Alter, so das empirische Ergebnis, wächst die Unterstützung für gleichberechtigte Lebensentwürfe im Geschlechterverhältnis. Doch »auch junge Männer folgen teilweise noch alten Mustern«, betont Mitherausgeber Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance, der vor seiner Emeritierung unter anderem den Schwerpunkt Jugendforschung an der Universität Bielefeld gelehrt hat. Das Bildungsniveau habe erheblichen Einfluss darauf, ob Anzeichen für mögliche Erkrankungen überhaupt wahrgenommen würden. Der Wissenschaftler plädiert daher für Gesundheitsunterricht an den Schulen.
Zeitfresser Gaming und Pornos
Einstellungsuntersuchungen beruhen auf Selbsteinschätzungen der befragten Personen, was ihre Aussagekraft mindert, weil das faktische Verhalten manchmal erheblich davon abweichen kann. Diesem grundlegenden Problem wirken die Herausgeber*innen zum einen entgegen, indem sie der Studie eine fundierte Literaturübersicht zum bisherigen Stand der Forschung voranstellen. Verfasst hat diese einführende Zusammenfassung die Gütersloher Gesprächstherapeutin Heidrun Bründel, die mit Klaus Hurrelmann schon in Bielefeld kooperiert und mit ihm zusammen mehrfach zum Thema Männergesundheit publiziert hat.
Zum anderen kommentieren im zweiten Teil des Bandes unabhängige Fachleute aus der Genderforschung in sechs eigenständigen Beiträgen die neu ermittelten Daten. Dort schreibt etwa Jürgen Budde über »Körperkonstruktionen und soziale Grenzverletzungen« sowie Hendrik Jürgens über Gesundheit und bildungsbezogene Ungleichheit. Gunter Neubauer analysiert geschlechtsspezifische Unterschiede im Freizeitverhalten, sein Kollege Reinhard Winter die Mediennutzung junger Männer. Diese ergänzenden Texte sind hilfreich und erweitern den Horizont, denn gerade in den beiden zuletzt genannten Feldern stellt der fünfte Männergesundheitsbericht erhebliche Differenzen zwischen den Geschlechtern fest.
So hat das Online-Gaming als zeitfressende Beschäftigung unter den befragten Männern eine erhebliche Bedeutung. Der Aussage »Ab und zu zocke ich die ganze Nacht am Bildschirm und bin am nächsten Tag völlig gerädert« stimmen sie deutlich häufiger zu als Frauen. Noch größer ist das Gender-Gefälle bei der Frage nach pornografischen Angeboten im Internet: Während das Porno-Gucken für die Mehrheit der jungen Männer zu einem selbstverständlichen Teil ihrer Sexualität geworden ist, liegt die Nutzung durch weibliche Zuschauerinnen signifikant niedriger – wobei denkbar ist, dass die Befragungsergebnisse unter Frauen aufgrund von Rollenvorstellungen niedriger liegen als der reale Konsum von Pornographie.
Lebenserwartung: Gefälle sinkt
Hoffnung macht eine Beobachtung von Mitherausgeber Kurt Miller: Junge Männer seien beim Thema Gesundheit »nicht so schlecht wie wir zuvor gedacht haben«. Einige Daten, die ein langsam wachsendes Bewusstsein für die in traditionellen Settings verpönte Selbstsorge erkennen lassen, seien ermutigend. Der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Lebenserwartung sei im deutschen Durchschnitt auf mittlerweile 4,8 Jahre gesunken. In der viel stärker von industrieller Erwerbsarbeit und althergebrachten Männerrollen geprägten Periode nach dem Zweiten Weltkrieg betrug dieser sogenannte »Gender Life Expectancy Gap« in Deutschland sogar rund acht Jahre, in Teilen Osteuropas beträgt die Kluft immer noch bis zu 15 Jahre.
Seit 1980 verringert sich der Abstand zwischen den Geschlechtern, die Forschung erklärt das mit der Annäherung weiblicher an männliche Rollen. Die bereits 2002 veröffentlichte und wegweisende Klosterstudie des Wiener Demografen Marc Luy, der Lebensverläufe von Nonnen und Mönchen verglichen hat, ergibt einen körperlich bedingten Unterschied beim Sterbealter von nur einem Jahr. Alles andere ist sozial konstruiert, der frühere Tod von Männern also kein biologisches Naturgesetz, sondern auf krankmachende gesellschaftliche Bedingungen und althergebrachte Geschlechternormen zurückzuführen. Prognosen für das Jahr 2060, die wegen der langen Vorausschau mit Vorsicht zu betrachten sind, sagen einen weiteren Rückgang des Gender Gaps auf lediglich 3,4 Jahre voraus.
Ein gravierender, immer noch unterschätzter Faktor ist das durch Lohnniveau und psychosoziale Lage bedingte Gefälle unter den Männern selbst. Der Unterschied bei der Lebenserwartung zwischen der reichsten und der ärmsten Einkommensgruppe beträgt nach einer älteren Vorläuferuntersuchung alarmierende 10,8 Jahre. Kurt Miller von der Stiftung Männergesundheit fordert vor diesem Hintergrund eine klare Fokussierung. Denn »die größten Probleme haben diejenigen, die man am schwierigsten erreicht«; daher müsse man sich bei Vorsorge und Prophylaxe um diese Gruppe auch am meisten kümmern.
Das setzt voraus, dass sich überhaupt ein Geschlechterblick auf die Medizin als selbstverständliche Betrachtungsweise durchsetzt. Vor allem in den Nullerjahren wurde viel geredet über die Anwendung der von der Europäischen Union angeregten Strategie des Gender Mainstreaming. In sämtlichen Politikfeldern sollten Akteur*innen auf die spezifischen Auswirkungen für Frauen wie Männer achten. Bewirkt hat das bisher wenig; aus weiblicher Sicht führt es inzwischen gelegentlich zu Erfolgen, etwa beim Umgang mit der Corona-Pandemie. So hat der Deutsche Bundestag in jüngster Zeit mehrfach darüber diskutiert, dass Frauen überdurchschnittlich an Long Covid erkranken oder unter dem damit verwandten Chronischen Fatigue-Syndrom CFS leiden. Über besonders Männer betreffende Gesundheitsprobleme hingegen, so bekannte selbstkritisch der SPD-Abgeordnete und Arzt Herbert Wollmann bei der öffentlichen Präsentation der neuen Studie, habe man im Parlament oder im zuständigen Fachausschuss noch nie gesprochen.
Stiftung Männergesundheit (Hg.): Junge Männer und ihre Gesundheit. Fünfter Deutscher Männergesundheitsbericht. Psychosozial-Verlag 2022, 248 S., br., 42,90 €.
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