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Zuwendung in der Not

In Steglitz begehen ukrainische Flüchtlinge zusammen mit Mitgliedern der evangelischen Markus-Gemeinde die Weihnachtszeit

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 7 Min.
Michael Zwilling, Maria Shevchenko und Pfarrer Sven Grebenstein (v.l.n.r) im Markus-Gemeindehaus in Steglitz
Michael Zwilling, Maria Shevchenko und Pfarrer Sven Grebenstein (v.l.n.r) im Markus-Gemeindehaus in Steglitz

David isst eine Schüssel Haferflocken. Der schüchterne Vierjährige sitzt im Schlafsaal der evangelischen Markus-Kirchengemeinde in Steglitz. Die meisten ukrainischen Geflüchteten, die hier Domizil gefunden haben, sind gerade nicht zu Hause. Sie sind in der Schule, beim Deutschkurs, beim Arzt.

Beim Deutschkurs von Lena P. gibt es heute einen Tag Pause. Die Kiewer Mutter einer jugendlichen und einer erwachsenen Tochter ruht sich auf ihrer Liege aus. Sie wohnt seit sieben Monaten in dem evangelischen Gemeindehaus. Hier fühle sie sich wohl, sagt die gelernte Floristin zu »nd«. Und das hat viel mit der emotionalen Zuwendung zu tun, die die ukrainischen Geflüchteten in der Gemeinde erfahren.

Seit März beherbergt das Gemeindehaus Flüchtlinge. Derzeit sind es 40, in Spitzenzeiten waren es bis zu 100, und so viele können es auch bald wieder werden. Denn der Bedarf an Unterkünften in Berlin steigt gerade wieder steil an.

»Es begann im März mit einer Anfrage der Landeskirche an die Kirchengemeinden«, erinnert sich Sven Grebenstein, der junge Pfarrer der Gemeinde. »Berlin war damals mit der großen Zahl ukrainischer Geflüchteter überfordert, und die Kirchengemeinden wurden gefragt, ob sie nicht Räume zur Unterbringung anbieten können.« Für Grebenstein und die Gemeinde war sofort klar, dass sie helfen wollten. »Wir haben das größte Gemeindehaus in Steglitz. Es war schon zu seinen Bauzeiten in den 1930er Jahren zu groß.« Angebote für die Kinder- und Jugendarbeit, die bis zum vergangenen Winter im Gemeindehaus stattfanden, zogen in benachbarte Kirchengemeinden.

Die Anfrage der Landeskirche traf an einem Montag ein. »Bereits am darauffolgenden Sonntag kamen die ersten 50 Gäste«, erinnert sich der Pfarrer. Dazwischen lag eine Woche voller ungewohnter Arbeiten. Feldbetten in großer Zahl mussten besorgt werden. Polnische Bauarbeiter verwandelten innerhalb von zwei Tagen die Herrentoilette in einen Duschraum für die vielen Frauen, die erwartet wurden. Und ehrenamtliche Helfer mussten die in großer Zahl eingehenden Spenden sortieren, neben Bettdecken und Kinderkleidung auch Lebensmittel.

Eine, die damals Lebensmittel vorbeibrachte, ist Maria Shevchenko, eine junge Russin. »Ich habe gesehen, dass sehr viele Leute Lebensmittel bringen, dass es aber etwas anderes gibt, was dringend gebraucht wird und was ich leisten kann: Sprachmittlung.« Gemeinsam mit dem Russlanddeutschen Michael Zwilling, einem Gemeindemitglied, wurde sie inzwischen in der Kirche als Betreuerin angestellt. Gibt es Ressentiments der Ukrainer gegen sie als Russin? Shevchenko schüttelt den Kopf: »Wir sind alle Menschen.«

Ihr Kollege Zwilling relativiert das: Das gute Miteinander hänge mit der besonderen Situation in der Kirchengemeinde zusammen. Als er Anfang März in Frankfurt/Oder am Bahnhof helfen wollte, hätte eine Ukrainerin seine Hilfe zum Koffertragen abgelehnt, als sie erfuhr, dass er aus Russland stamme. Das seien so Erfahrungen, die ihn bis ins Mark treffen, sagt Zwilling.

Erstaunlich ist, dass die Markus-Gemeinde das alles bewältigt, ohne Gelder vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) zu bekommen. Die Personalkosten für die Betreuer, die Kosten für die Ausstattungsgegenstände, für Energie, für Lebensmittel – all das wird aus Spendenmitteln bestritten. Hinzu kommt eine Förderung durch den Flüchtlingsfonds der Landeskirche.

»Ohne diese Zuwendungen und die großzügigen Spenden vieler Menschen würde es nicht gehen«, sagt Pfarrer Grebenstein. Dadurch kann die Gemeinde flexibler auf konkrete Bedarfe reagieren. So bringt sie beispielsweise Drei-Generationen-Familien gemeinsam unter, was in LAF-Heimen nicht immer garantiert ist. Sie bietet auch Pflegefällen einen Platz, wofür es einen großen Bedarf gibt. Da ist es von Vorteil, dass die Diakonie-Station und der zugehörige Pflegestützpunkt ebenfalls im Gemeindezentrum sitzen.

Die Bewohner haben Küchen, in denen sie ihr Essen selbst kochen können, und bekommen nicht wie in vielen Notunterkünften für Flüchtlinge eingeschweißtes Essen gereicht. Von alldem abgesehen sind die Lebensbedingungen trotzdem eher mit einer Notunterkunft als mit einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge vergleichbar. Sie müssen auf Feldbetten schlafen; eine große Zahl von Menschen teilt sich einen Schlafsaal, in dem nur mit Trennwänden aus Stoff ein wenig Privatsphäre geschaffen werden kann. Dazu gibt es aber Extraräume als Kinderspielzimmer oder als Quarantäneraum für den Fall einer Corona-Erkrankung.

Dass die ukrainischen Frauen und Kinder dennoch so zufrieden und entspannt sind, liegt an dem im Vergleich zu den LAF-Heimen unschlagbaren Betreuungsschlüssel: Maria Shevshenko, Michael Zwilling und ein dritter Betreuer, der gerade Urlaub hat, stemmen extrem viel. Sie begleiten die Flüchtlinge zu Behörden, zu Ärzten und bei der Wohnungssuche. In LAF-Heimen fehlt dem hauptamtlichen Personal dazu die Zeit, eine Begleitung ist nur möglich, wenn man auf einen Pool von Ehrenamtlern zurückgreifen kann. Genau jene Helferinnen und Helfer also, die es in der Steglitzer Gemeinde in großer Zahl gibt.

So konnte die Kirchengemeinde einer Drei-Generationen-Familie, die auf dem Berliner Wohnungsmarkt chancenlos gewesen wäre, eine frei gewordene Wohnung vermitteln. Und natürlich haben sich über die Zeit persönliche Beziehungen gebildet. Im Foyer des Gemeindehauses stehen Kisten mit Möhren, Champignons und Äpfeln, die die Nachbarn gespendet haben. Die Gäste aus der Ukraine können sich nehmen, was sie brauchen. Ein Gemeindemitglied hat für den Schlafsaal einen Adventskranz gebastelt, geschmückt ist er mit Kugeln und Schleifen in den ukrainischen Farben blau-gelb.

Dass Pflegefälle aus anderen Kriegs- und Krisenregionen der Welt bisher ausgesprochen selten nach Deutschland kommen, liegt nicht zuletzt an den schwierigen Fluchtbedingungen: Durch die Sahara, über das Mittelmeer oder über die sogenannte Balkanroute schaffen es Menschen nicht mehr, die etwa an Krebs erkrankt oder kriegsversehrt sind. Für Ukrainerinnen und Ukrainer ist die Flucht wesentlich einfacher: Sie können mit der Bahn reisen oder sogar im Krankenwagen.

Die große Zahl der Pflegefälle unter den Ukraine-Flüchtlingen ist allerdings für die Berliner Behörden eine besondere Herausforderung. Zwilling sagt, dass das LAF bei einer 75-jährigen bettlägerigen Frau lange darauf bestanden habe, dass sie persönlich im Amt erscheine, um sich zu registrieren und die Krankenhauskosten zu beantragen. Nach der fluchtbedingt viel zu spät erfolgten Krebsoperation fiel es der Gemeinde dann schwer, die Frau in einem Hospiz unterzubringen, weil die Kostenübernahme unklar war.

Eine Herausforderung für viele Unterkünfte sind auch die Haustiere, die Geflüchtete aus der Ukraine mitbrachten. In LAF-Heimen ist die Tierhaltung normalerweise verboten. Die Steglitzer Gemeinde hat das ermöglicht. »Wir hatten im Schlafsaal Hunde, Katzen, Vögel und eine Wasserschildkröte«, sagt der Pfarrer. »Die Tiere haben sich aber gut vertragen. Es gab jedenfalls keine Ausschreitungen, von denen wir wüssten.« Schwierig wurde es, wenn die Gäste in Wohnungen oder in bessere Unterkünfte umziehen konnten, in denen Haustierhaltung nicht erlaubt ist. Seine Tochter habe deshalb einen Kater aus Kiew und eine Katze aus Odessa aufgenommen, sagt Michael Zwilling.

Jana und Julia, zwei Schwestern aus Kiew, sitzen im Gemeindehaus. In der Gemeinde fühlen sie sich willkommen, erzählen sie. Sorge bereitet ihnen das Schicksal der Männer der Familie. Julia hat seit Tagen keine Nachricht von ihrem Mann erhalten. Michael Zwilling sagt, dass es viele solche Fälle gebe. »Ich sehe immer wieder Frauen, die mit zittrigen Händen die Telefonnummer ihrer Männer wählen.«

In schwierigen Situationen geben die religiösen Angebote der Gemeinde den Ukrainern Halt, auch wenn sie keine evangelischen Christen sind. Seine Gäste seien, so Sven Grebenstein, entweder orthodoxe oder katholische Christen, andere hätten kaum einen Bezug zur Kirche. Das zweisprachige Friedensgebet, das die Gemeinde jeden Samstag anbietet, werde von den Ukrainern aber gut angenommen, von vielen auch der Gottesdienst, obwohl der ganz anders zelebriert wird als ein orthodoxer. So gibt es keinen Weihrauch und keine Ikonen, dafür Orgelmusik. Lena erzählt, dass sie die Musik lieben gelernt habe. Michael Zwilling sagt, er habe beobachtet, dass die von vielen Ukrainern geliebte Orgelmusik manchmal wie Musiktherapie wirke.

Den Weihnachtsgottesdienst will die Gemeinde zusammen mit ihren ukrainischen Gästen feiern. Es gibt ein zweisprachiges Krippenspiel, das auf eine Initiative der ukrainischen Familien zurückgeht.

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