Endstation Sehnsucht

Terry Hall schrieb und sang die traurigsten Lieder, die uns glücklich machten

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.
Er hatte die traurigsten Augen der Welt: Terry Hall (r.), mit Colurfield, 1984
Er hatte die traurigsten Augen der Welt: Terry Hall (r.), mit Colurfield, 1984

Ska war Punk mit anderen Mitteln. Also wütende Musik. Vielleicht hat Terry Hall geglaubt, das Ganze könnte funktionieren – gemeinsam mit wütenden Schwarzen und Weißen die eigene Wut rauslassen. Als Sohn jüdischer Arbeiter wusste er, wie es sich anfühlt, unten zu sein. Und in den späten 70ern und frühen 80ern gab es in England genug Gründe, wütend zu sein. Die Schwerindustrie ging vor die Hunde. Auch Halls Heimatstadt Coventry, einst das Herz der britischen Automobilproduktion und berühmtes Angriffsziel der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, erlebte einen rasanten Niedergang.

Mit den Specials sang Terry Hall darüber, was es für junge Menschen bedeutet in einer »Ghost Town« zu leben. Wo alle Clubs und Diskotheken dichtgemacht haben und keine Bands mehr auftreten, weil sich eh keiner mehr für Musik interessiert, sondern nur noch für Schlägereien, um den angestauten Frust loszuwerden. Und wo das Besäufnis an »Friday Night« im »Saturday Morning«-Kater endet und man sich wünscht, man hätte Lippenstift auf dem Hemd, statt Pisseflecken auf den Schuhen.

Sobald Terry Hall, der Sänger der Specials, den Mund aufmachte, brachen alle Dämme. Nein, er hatte keine schmerzerfüllte Stimme; Terry Hall war der Schmerz. Und das hatte nichts mit der Geisterstadt Coventry zu tun, sondern mit einem realen Alptraum, den er als Zwölfjähriger erlebt hatte. 1971 war er in Frankreich von einem Pädophilenring entführt worden, der ihn vier Tage lang sexuell misshandelte, danach bewusstlos schlug und am Straßenrand liegen ließ. In der Folge wurde er depressiv. Doch statt einer Therapie erhielt er Valium. So war er mit 13 bereits abhängig.

1983 versuchte er in »Well fancy that!« – dem letzten Lied des Fun Boy Three-Albums »Waiting« – dieses traumatische Erlebnis zu verarbeiten. Auch wer den Song nicht kannte, ahnte, was mit Terry Hall los war. Denn er hatte die traurigsten Augen der Welt. Dieser Mensch musste Schreckliches durchgemacht haben. Anders als sein depressiver Zeitgenosse Ian Curtis (Joy Division), der zielstrebig dem Tod entgegensang, suchte Hall jedoch verzweifelt das Glück. Hinter seinem Himalaya-hohen Trauermassiv verbarg sich eine unkaputtbare Sehnsucht nach Liebe. Seine Seele wies tiefe Risse auf, aber seine Träume waren intakt geblieben.

Für diese Sehnsucht war der polternde, rumpelnde Ska das falsche musikalische Medium. Also verließ er 1981, nach dem Nr. 1-Hit »Ghost Town«, die Band und gründete mit zwei Specials-Mitgliedern Fun Boy Three. Im Namen drückte sich der Wille zu mehr Leichtigkeit aus. Zwar blieben die Texte bitter, aber die Musik wurde trommellastiger, poppiger. Zusammen mit Bananarama gelangen Fun Boy Three gar zwei beinah fröhliche Singles, die dem Frauentrio zum Durchbruch verhalfen.

Nach der Auflösung der Band 1983 war Halls nächster Schritt nur konsequent. Bei The Colourfield war der Name Programm – weg vom Coventry-Betongrau, hin zur Farbe! Die Welt ist bunt! Das Debütalbum »Virgins and Philistines« war eine leuchtende musikalische Wundertüte. Da gab es schmissigen Beat (»I can’t get enough of you, baby«), Lagerfeuer-Folk (»Hammond song«) und Sunshine-Pop (»Thinking of you«). Und über allem thronten die »Castles in the air«; eine Hymne, durch die sich Terry Hall unsterblich machte. Mit einer ähnlichen Vielfalt hatten die Beatles in den 60er Jahren die Massen begeistert. Anno 1985 hingegen bediente der Musikmarkt zielgruppengenau die unterschiedlichen Jugendkulturen. Die Popper hörten Sade, die Gothic-Jünger The Sisters of Mercy. Zwischen Bar-Jazz und Dark Wave war kein Platz für Terry Hall. »Virgins and Philistines« erreichte in Großbritannien nur Platz 12.

Skandalös, dass die Singleauskopplung »Castles in the air« es nicht in die Top 50 schaffte. Ein Lied, das – bleiben wir bei den Beatles – »Yesterday« und »Something« ebenbürtig ist. Schönere Luftschlösser wurden selten in einem Song errichtet: »We’ll eat forbidden fruits and sing our favourite songs and never tell each other we‹re wrong. Each drop of tenderness you give would be another reason why I’d want to live, would be another chance to sit beneath the stars and whisper to each other in the dark.« (Wir essen verbotene Früchte und singen unsere Lieblingslieder und nie sagen wir einander, dass wir im Unrecht wären. Jeder Tropfen Zärtlichkeit, den du gibst, wäre ein weiterer Grund, warum ich leben will, wäre eine weitere Chance, unter den Sternen zu sitzen und im Dunkeln miteinander zu flüstern.)

Am 18. Dezember 2022 starb Terry Hall im Alter von 63 an Krebs. Kurz darauf geschah etwas Seltsames in den sozialen Netzwerken. Dort, wo sonst bei Promi-Toten pflichtschuldig ein »R.I.P.« in die Tastatur gehauen wird, zeigten sich Menschen erschüttert und posteten seine Lieder. Ja, es war wie ein kollektives Coming-out. Jahrzehntelang hatte man geglaubt, man würde als Terry-Hall-Fan zu einer verschwindenden Minderheit gehören. Und mit einem Mal zeigte sich: Dort draußen, in der realen Welt, gibt es zahllose Menschen, die seine Musik lieben. Sogar »Castles in the air« ist viel bekannter, als man zu hoffen gewagt hätte.

Und während man seine Platten auflegt, zum Beispiel das sträflich missachtete Solowerk »Laugh« von 1997, und spätestens bei »I saw the light« – einer herzzerreißenden Coverversion von Todd Rundgrens 1972er-Hit – Rotz und Wasser heult, wünscht man sich, Terry Hall dürfte all das noch erleben. Er, »der immer so tapfer war« (Bernd Begemann), könnte sehen, wie viele Seelenverwandte er zu Lebzeiten hatte. Vielleicht würden seine traurigen Augen einen Moment lang lächeln.

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