Vorschrift ist Vorschrift

Boris Palmer schlägt andauernd über die Stränge. Kein Wunder, dass Tübingens Oberbürgermeister es sich deswegen mit den eigenen Parteifreunden verscherzt, meint Christoph Ruf.

Kennen Sie Boris Palmer? Das ist der Mann, der überregional wohl vor allem durch teils sehr merkwürdige Aussagen aufgefallen sein dürfte. Beispielsweise über Menschen, die sich erdreisten, im von ihm regierten schwäbischen Musterstädtle Tübingen in der Fußgängerzone Fahrrad zu fahren, statt Fahrrad zu schieben. Und das noch ohne T-Shirt und Großeltern, die auch schon aus dem Städtle stammen.

Und kennen Sie Marco Bülow? Der Mann ist 2018 aus der SPD und damit drei Jahre später aus dem Bundestag ausgeschieden und hat ein Buch (»Lobbyland«) darüber geschrieben, wem sich Politikerinnen und Politiker viel zu oft eigentlich verpflichtet fühlen. Dem »Fraktionszwang« nämlich. Und den jeweils nahestehenden Interessenverbänden, von der Auto- über die Pharma- bis zur Windkraft-Lobby. Zentrale These: Die meisten Abgeordneten im Bundestag fühlen sich weniger dem jeweiligen Parteiprogramm, der Basis oder den eigentlichen Interessen des Wahlkreises verpflichtet als der eigenen Wiederwahl.

Christoph Ruf
Christoph Ruf
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Und damit zurück zu Palmer: Der Mann ist im Herbst schon im ersten Wahlgang als Oberbürgermeister seiner Stadt wiedergewählt worden. Und das, obwohl er alle anderen Parteien und dazu die eigene grüne gegen sich hatte. Gewählt wurde er eher trotz als wegen seiner angedeuteten Ausfälle. Offenbar war den meisten Leuten wichtiger, dass er 16 Jahre lange glaubwürdig sein Programm, konsequenten Umwelt- und Klimaschutz, abgearbeitet hat, also eben kein Politiker war, wie ihn Bülow beschreibt.

So etwas ist eigentlich schon kurios genug. Noch kurioser ist aber, dass Palmer einfach so weitermacht, obwohl die nächste Wahl erst in den 30ern ist. Sie erinnern sich vielleicht: Es gibt diese Appelle, Energie zu sparen. Weshalb Palmer einen Teil der 11.000 Tübinger Lichter ausschalten ließ und verkündete, er sei »gerne bereit, die Verantwortung für nächtlich unbeleuchtete Zebrastreifen zu übernehmen«.

Palmer scheint also ganz offenbar in mehrerlei Hinsicht verhaltensauffällig. Erstens: Er denkt mit dem eigenen Kopf. Zweitens: Er handelt danach. Drittens: Er ist bereit, die Konsequenzen für sein Handeln zu tragen. Und viertens: Er begreift Politik als Möglichkeit, die Probleme zu lösen, die er als solche identifiziert hat. Bei den Wählerinnen und Wählern kommt das gut an.

Beim grünen Establishment nicht so: Der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann in Baden-Württemberg pfiff den Palmer zurück mit dem Hinweis, dass auch nachts jeder Zebrastreifen beleuchtet sein müsse. Eine Vorschrift aus der Nachkriegszeit, die man schnell ändern könnte, wenn man sein eigenes Gerede so ernst nimmt wie Palmer das Gerede der anderen. Palmer jedenfalls wandte sich an Vizekanzler Robert Habeck (ebenfalls Grüne) mit der Bitte, er solle in der Provinzposse ein Machtwort sprechen. Schließlich habe er, Habeck, ja gesagt, dass jede eingesparte Kilowattstunde helfe.

Nach allem, was man weiß, blieb das Schreiben unbeantwortet. Weshalb in Tübingen jetzt auch nachts um vier wieder alle Straßen beleuchtet sind. Vorschrift ist Vorschrift. Und Politikerphrase ist Politikerphrase. Zeitgleich gab im gleichen Bundesland der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann der »Taz« ein Interview. Tenor: Die Ungeduld der »Letzten Generation« ist unbegründet. Meine Lieblingsstelle: »Solche Aktionen für Tempo 100 und ein 9-Euro-Ticket, das ist doch einfach grotesk! Man klebt sich ernsthaft auf der Straße fest, damit die Leute fast umsonst in der Gegend rumfahren können?«

Damit noch ein paar gute Wünsche für 2023: Wenn Sie über 70 sind und das Pech haben, dass man Ihnen das dermaßen anmerkt wie Herrn Kretschmann: Lassen Sie es sich gut gehen, suchen Sie sich ein schönes Hobby; ein erfülltes Privatleben kann etwas sehr Schönes sein. Es muss demütigend sein, wenn sich keiner mehr traut zu sagen, dass es Zeit ist zu gehen.

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