Zwischen Treue und Verrat

Aus der Enttäuschungsgeschichte: Sonia Combe blickt auf die ostdeutschen Intellektuellen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Blick von außen auf DDR-Geschichte hat einen Vorzug: Er ist frei von parteiischer Selbstgerechtigkeit, von interessenhafter Verstrickung auch. Die hierzulande vorherrschende Logik des Entweder-Oder dagegen macht notwendige Differenzierung überaus schwierig, fast unmöglich.

Die Französin Sonia Combe blickt in »Loyal um jeden Preis. ›Linientreue Dissidenten‹ im Sozialismus« (auf Französisch bereits 2019 erschienen) mit unübersehbarer Neugierde auf die Geschichte der ostdeutschen Intellektuellen. Die 1949 geborene Historikerin forschte an der Universität Paris-Nanterre zur DDR-Geschichte. Sie hat mit dem Verhalten dieser Intellektuellen, die nicht selten aus der Emigration kamen, oft zugleich Juden und Kommunisten waren, ein Problem. Waren sie bis über jedes vertretbare Maß staatstreu – oder doch auch dissidentisch? Für Combe oft beides in einer Person. Diese These durchzieht das Buch und provoziert bei mir in gleichem Maße Zustimmung wie Widerspruch.

Sympathisch an ihrem durchaus exzentrischen Streifzug durch das intellektuelle Leben der DDR ist, dass ihr die institutionalisierte Form, wie die »Aufarbeitung« der DDR-Geschichte durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur betrieben wird, suspekt erscheint. Das betrifft vor allem den vorgegebenen Ton, in dem über die DDR zu sprechen sei – an die Einhaltung dieses Tons sei dann auch »die Vergabe von finanziellen Mitteln« für die Forschung gebunden. Klar, dass über die DDR dann zumeist nur als Diktatur gesprochen wird, als totalitäres Gegenstück zum demokratischen Westen. Für denkende Menschen ist das eine unzumutbare Simplifizierung. Kann der Einzelne, in diesem ideologischen Korsett steckend, so überhaupt noch Entdeckungen jenseits der vorgegebenen Linie machen?

Offenbar nur, wenn es ihm gelingt, sich von dieser Form ritualisierter »Unrechtsaufarbeitung« zu befreien. Ein Hauptkritikpunkt Sonia Combes an der unter (west)deutschen Historikern dominierenden Art, mit der DDR-Geschichte umzugehen, ist dieser: »Vergleichende Untersuchungen betreffen zumeist nicht die DDR und die Bundesrepublik Deutschland, sondern die DDR und den Nationalsozialismus, was nicht unproblematisch ist. Derartig eklatante Beispiele für eine Geschichtsschreibung durch die Sieger in solch kurzer Zeit sind selten.«

Das ist ein Aspekt, der hierzulande sonst kaum vorkommt. Dennoch habe ich bereits mit dem Titel »Loyal um jeden Preis« erhebliche Probleme; mit dem deutschen Untertitel, den Memoiren von Jürgen Kuczynski »Ein linientreuer Dissident« entlehnt, nicht weniger. Ich würde schlichtweg bestreiten, dass die Intellektuellen in der DDR (so sie denn diesen Namen verdienten) »loyal um jeden Preis« gewesen seien. Anfang der 50er Jahre, im Schatten des gerade überwundenen Nationalsozialismus und des nun herrschenden Stalinismus ging die »Loyalität« (freiwillige wie erzwungene) vielleicht am weitesten – der mörderische Prager Slánský-Schauprozess 1952 oder die Verurteilung von Harich und Janka nach dem Ungarn-Aufstand 1956 zu langjährigen Zuchthausstrafen sahen nicht nur eine schweigende Anna Seghers oder einen stummen Johannes R. Becher – die Angst der Heimkehrer aus dem Exil saß tief und speiste sich aus verschiedenen Quellen. Aber Bert Brecht, Hanns Eisler, Ernst Bloch und Hans Mayer wagten doch einiges! Sie blieben sich treu, auch im Widerstand etwa gegen Schdanows Formalismus-Doktrin. Die Frage also wäre eher: Wie viel Verrat (an tradierten Überzeugungen, an der Partei) war notwendig, um sich selber treu zu bleiben?

Spätestens nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und erst recht nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 war die Distanz der Intellektuellen und Künstler zur politischen Macht enorm, die Kritik an ihr ging weit. Das lässt sich am Werk zahlreicher Autoren, von Christa Wolf über Franz Fühmann bis Heiner Müller, nachweisen: Die Kritik wächst bis hin zur Aufkündigung der Loyalität gegenüber der SED und ihrer Ideologie. Das bestreitet Sonia Combe auch nicht, sie zeigt den Prozess gegenseitiger Entfremdung zwischen Geist und Macht an den Biografien einzelner Akteure.

Jedoch steht immer eine Frage Combes im Raum: Warum gehen die von den Verhältnissen der DDR Enttäuschten nicht endlich fort, warum bleiben sie dennoch da? Das versteht die Autorin nicht, mehr noch: Sie missbilligt dies offensichtlich als Inkonsequenz. Nun kann man das etwa, wenn man es genau wissen will, in Fühmanns späten Briefen nachlesen. Er erwartete von der DDR nichts Gutes mehr, aber von der Bundesrepublik (in die er zu Lesungen reisen konnte, auch seine Bücher erschienen als Lizenzausgaben in West-Verlagen) erwartete er erst recht nichts. Der Westen war für viele vom Osten Enttäuschte eben keine Alternative – das gehört zur heute gern verschwiegenen Vorgeschichte des 89er Herbstes, der mit dem Ruf »Wir bleiben hier!« begann.

Natürlich musste das jeder für sich entscheiden, und die Bindung der jüngeren Generation ans Projekt eines anderen deutschen Staates nahm kontinuierlich ab. So etwa konnte Wolfgang Hilbig, dessen Bücher – trotz Fühmanns Intervention »Ich zeige euch einen Dichter!« – in der DDR lange nicht erscheinen durften, Anfang der 80er Jahre für sich sagen: »Ich gehöre einer Generation an, die sich nicht länger zensieren lässt.« Er ging dann dorthin, wo man seine Bücher druckte, in den Westen.

So verschoben sich die Maßstäbe; die Existenz der DDR war für eine jüngere Generation von Intellektuellen und Künstlern eben kein Wert an sich mehr. Und die Alten vermochten es nicht länger, sie auf den selbst gelebten Kompromiss einzuschwören, der da lautete: Ein schlecht gemachter Sozialismus ist immer noch besser als ein gut gemachter Kapitalismus! Nein, dem wollte man so nicht länger folgen. Aber dass Sonia Combe nun ausgerechnet ein Kapitel »Jürgen Kuczynski – ein exemplarischer Weg« überschreibt, verstimmt.

Der Buchtitel von Kuczynskis Memoiren »Ein linientreuer Dissident« klingt zwar paradox, aber in meinen Ohren ist es ein hohler Klang. Denn der Wirtschaftshistoriker Kuczynski schien mir allzeit mehr linientreu als Dissident. Doch hier widerstreiten gewiss die Erinnerungen der Beteiligten – und was in Combes Buch zumeist ein Vorteil ist, der Blick von außen, erweist sich für ihr Urteil mitunter auch als Nachteil: fehlende persönliche Erfahrung. Wer gab wem ein Beispiel, dem er folgen mochte?

Heinz Kahlau, Brecht-Schüler, aber gewiss weder linientreu noch Dissident, schreibt in einem Gedicht aus den 80er Jahren, »Risiko« betitelt: »So gehen wir / in die Pilze. / Jeder kennt nur / aus der Erfahrung / von gestern, / was er / heute sucht.« Das Schlüsselwort lautet »Erfahrung«. Und wer fähig bleibt, diese – jenseits aller Dogmen gestern und heute – zu machen, der befindet sich in einem Wandlungsprozess, den auszudrücken ihm zweifellos größte Schwierigkeiten bereiten wird.

Der Wert von Sonia Combes Buch über die Intellektuellen in der DDR liegt darin, dass es jenseits deutsch-deutscher Schuldzuweisungen eigensinnig nach Antworten sucht, die alle um den »Verrat des Intellektuellen« (Julien Benda) kreisen. Denn Versagen gab es durchaus, aber es liegt auf einer ganz anderen Ebene als der des doktrinären Entweder-Oder und mündet nicht in die Frage, ob jemand »linientreu« oder »dissidentisch« gewesen ist – beides sind untaugliche Worte für jenen Enttäuschungsprozess, den Stephan Hermlin mit den Worten beschrieb, die dem Buch vorangestellt sind: »Ich nehme zur Kenntnis, dass ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.«

Sonia Combe: Loyal um jeden Preis. »Linientreue Dissidenten« im Sozialismus. A. d. Franz. v. Dorothee Röseberg, Ch. Links Verlag, 268 S., geb. 25 €.

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