»Ich wusste, dass da Dinge waren, von denen ich nichts wusste«

Peter Beurton über seine Mutter »Sonja«, eine Top-Spionin des 20. Jahrhunderts, und Schwierigkeiten mit der Erinnerung

Ursula Beurton mit ihren Kindern Michael, Peter und Janina in den 1940er Jahren in Großbritannien Foto: privat
Ursula Beurton mit ihren Kindern Michael, Peter und Janina in den 1940er Jahren in Großbritannien Foto: privat

Herr Beurton, in Großbritannien ist eine Biografie über Ihre Mutter erschienen, die unter anderem Mitarbeiterin des berühmten sowjetischen Spions Richard Sorge war. Nunmehr liegt diese auch auf Deutsch vor. Hat Sie dieses Buch über Ihre Mutter fast zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod überrascht? Und sind Sie glücklich mit dem Werk von Ben Macintyre?

Interview

Peter Beurton, 1943 in Oxford geboren, ist der jüngste Sohn der Top-Spionin »Sonja«, geborene Ursula Kuzcynski, die als Tochter von Robert und Berta Kuczynski in einer gut situierten bürgerlichen Familie mit jüdischen Wurzeln aufwuchs. In den 1930/40er Jahren war die junge Kommunistin für den sowjetischen Nachrichtendienst in Fernost und Westeuropa tätig. Ihre Autobiografie »Sonjas Rapport« erschien 1977 in der DDR und 2006 in einer ungekürzten Neuauflage im Verlag Neues Leben. Dieser Tage kam die Biografie des Briten Ben Macintyre »Agent Sonja« auf den deutschen Buchmarkt (Insel, 469 S., geb., 26 €) – Anlass, mit Peter Beurton zu sprechen, der 1950 mit seiner Mutter in die DDR übergesiedelt ist, an der Humboldt-Universität zu Berlin Biologie studierte, dann an der DDR-Wissenschaftsakademie tätig war und nach der »Wende« am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte arbeitete.

Macintyre hat mich zuvor kontaktiert. Und ich kann nur sagen: Diese Biografie ist ein Glücksfall. Sachlich und zugleich spannend. Und frei von jeglicher ideologischer Denunziation, von Schwarz-Weiß-Denken oder Freund- und Feind-Klischees, wie man sie leider in der Literatur über das »Jahrhundert der Extreme«, wie Macintyres Landsmann Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nannte, oft vorfindet. Und das ist besonders bemerkenswert, da Macintyre – im Gegensatz zu Hobsbawm – kein Marxist ist.

Aber ein studierter Historiker, der sich einen Ruf durch Kolumnen für die »Times« und mit historischen Sachbüchern erwarb, darunter eins über den »windigen« Doppelspion Eddi Chapan, der sich zunächst den Nazis angedient hatte und dann vom MI5 umgedreht wurde.

Für sein Buch über meine Mutter benötigte Macintyre nur zwei Jahre Recherche und ein Jahr fürs Schreiben. Umso mehr überrascht das beeindruckende Resultat. In einer »nd«-Annotation stand vor Kurzem, dies sei ein Sachbuch. Das ist es zwar, trifft aber nicht den Kern. Macintyre besitzt die immense Fähigkeit, durch ein gründliches Studium der Quellen sich in das Leben eines Menschen und seine Welt so gut hineinzuversetzen, dass der Eindruck entsteht, er habe diesen auf seinem Weg durchs Leben begleitet, ihm oder ihr quasi über die Schulter schauend laufend Notizen gemacht. Herauskommt dann ein solches Buch in der unaufgeregten, echt englischen Erzähltradition des Understatement.

Seit dem Erscheinen von Macintyres Buch hat sich die englische Presse geradezu überschlagen mit Wendungen wie »Stalins beste weibliche Spionin« oder »größte Spionin des 20. Jahrhunderts«. Ist das nicht ein wenig übertrieben?

Gewiss ist das ein wenig hergemacht, aber nicht nur Bücher, sondern auch Zeitungen sollen sich ja verkaufen. 

Etwas schwierig für einen Biografen dürfte sein, dass Ihre Mutter verschiedene Namen hatte? 

Peter Beurton in seinem Arbeitszimmer Foto: Christa Beurton
Peter Beurton in seinem Arbeitszimmer Foto: Christa Beurton

Ja, nachdem sie 1929 den Architekten Rudolf Hamburger geheiratet hat, trug sie dessen Namen. Mit ihm ist sie bereits im Jahr darauf nach Shanghai gegangen, wo mein Halbbruder Michael geboren wurde, der vor zwei Jahren starb. In Shanghai lernte meine Mutter durch die linke US-amerikanische Journalistin Agnes Smedley dann Richard Sorge kennen, der sie für den sowjetischen Militärgeheimdienst GRU anwarb und ihr den Decknamen »Sonja« gab. 1936 ist sie nach Polen geschickt worden, musste dann aber bereits zwei Jahre darauf in die Schweiz flüchten, wo sie unter dem Namen Ursula Schulz konspirativ arbeitete und meinen Vater kennenlernte, den sie 1940 heiratete – weshalb sie fortan mit bürgerlichem Namen Ursula Beurton hieß. In der DDR war sie dann bekannt als Ruth Werner, ihr Pseudonym als Schriftstellerin. Bei all dem Wust entschied Macintyre sich dann im Untertitel seines Buches für »A biography of Soviet agent Ursula Kuczynski«, also für ihren Mädchennamen.

Übrigens: Bei Interviews und öffentlichen Auftritten spricht Macintyre stets von »Örsöla«, denn ihren eigentlichen Vornamen Ursula gibt es im Englischen nicht – eine ausgesprochen intime Liebkosung, finde ich.

Wie denkt man in England über jene Deutschen, die auf der Insel Zuflucht vor den Nazis gefunden und der Anti-Hitler-Koalition angehört haben, dann aber im Kalten Krieg für »die Russen« arbeiteten?

Gegen Kriegsende und einige Zeit danach war Stalin in Großbritannien eine geachtete Persönlichkeit, umgeben mit der Aura des »Onkel Joe«. Auch Premier Winston Churchill war von Stalin beeindruckt. Und es war damals leicht, Menschen für die Sache der Sowjetunion zu gewinnen. Das war zunächst kaum ein Widerspruch. Man wächst unter gewissen Gegebenheiten in Überzeugungen hinein. Beispielsweise Melita Norwood, Tochter von britischen Kommunisten, die dann selbst der KP Großbritanniens beitrat und über vier Jahrzehnte für den sowjetischen Nachrichtendienst tätig war. Sie lebte mit ihrem Mann, einem Mathematiker, in Bexleyheath, einem südlichen Vorort von London. Und nicht unähnlich war das ja auch bei Klaus Fuchs.

Der berühmte sogenannte Atomspion, der 1941 bis 1943 am britischen Atomprojekt »Tube Alloys« an der University of Birmingham beteiligt war und für den Ihre Mutter Kurierdienste leistete. Haben Sie ihn persönlich kennengelernt?

In Großbritannien nicht, denn er ist im Jahr meiner Geburt nach Los Alamos in die USA gewechselt. Aber in der DDR. Ich stand Klaus Fuchs oft sehr nahe – in der Essenschlange der Mensa im obersten Stockwerk des Hauptgebäudes der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. Nach seiner Entlassung aus britischer Haft – 1950 ist er enttarnt worden – übersiedelte er in die DDR und setzte seine Forschungen als Kernphysiker an der AdW fort, wo ich in den 70er und 80er Jahren als Philosoph und Wissenschaftstheoretiker tätig war. Ich hätte mir ausrechnen können, wann es uns statistisch gesehen an den gleichen Sechsertisch verschlagen würde …

So spricht ein Enkel des renommierten Statistikprofessors Robert Kuczynski. Warum wundert mich das nicht?

Richard Sorge alias »Ramsay« wurde nach seiner Enttarnung als Sowjetspion 1944 in Tokio hingerichtet. Foto: imago/AGB Photo
Richard Sorge alias »Ramsay« wurde nach seiner Enttarnung als Sowjetspion 1944 in Tokio hingerichtet. Foto: imago/AGB Photo

Naja. Aber nein, nein, Klaus Fuchs wusste nicht, dass ich der Sohn seiner ehemaligen Mitstreiterin in Großbritannien war.

Wie Melita Norwood führten auch Ihre Eltern in Kriegszeiten ein für die Öffentlichkeit unspektakuläres Leben in einem kleinen verschlafenen Ort. Was wissen Sie noch vom Leben in Rollright in Oxfordshire?

Mit diesem Dorf und der wenige Kilometer entfernten Kleinstadt Chipping Norton verbinden sich für mich die schönsten Kindheitserinnerungen. Wir wohnten in einem 250 Jahre alten Bauernhaus voll ländlicher Atmosphäre, errichtet aus Kalkbruchstein. Jeden Morgen bin ich noch mit dem Latz vom Frühstück um den Hals in den Hof spaziert, um zu prüfen, ob die Sonne schon über dem Schuppen steht. Ich erinnere mich an den großen Gemüsegarten, der sehr sorgsam von meiner Mutter bepflanzt wurde. Es gab nur wenig frische Lebensmittel damals im Krieg. Und sie backte regelmäßig Scones; das sind handtellergroße krustenlose Törtchen, die mit Marmelade und Sahne serviert werden. Macintyre erwähnt diese Scones, soweit ich gesehen habe, nur einmal in seinem Buch, platziert sie aber gekonnt ins Leben meiner Mutter als fast schon englische Lady. Heute glaubt ein jeder in Rollright, der sein Buch gelesen hat, sie habe die Scones für alle Dorfbewohner gebacken. Ich weiß dies von gelegentlichen Besuchen an die Stätte meiner frühen Kindheit.

Meine Mutter entwickelte tatsächlich erstaunlich viele Aktivitäten für die kleine Gemeinde. Aus Macintyres Buch erfuhr ich, dass wir gar regelmäßig die Gottesdienste besucht hätten. Könnte stimmen, auch wenn ich mich nicht daran erinnere. Fakt ist jedenfalls: Ihr Nachbarschaftsleben war von der unaufdringlichen Art. Und das war nicht alles nur Tarnung, sondern gelebtes Leben. Ich glaube, meine Mutter hätte ein Leben wie das von Günter und Christel Guillaume, Top-Agenten des DDR-Auslandsgeheimdienstes HVA, die an der Seite von Willy Brandt unweigerlich auch im Rampenlicht standen, schwerlich ertragen.

Ganz gewiss wollte meine Mutter nach der Befreiung vom Faschismus 1945 so schnell wie möglich nach Deutschland zurück, doch bekam sie vor Ort eben noch andere Aufgaben übertragen. Und so machte sie dementsprechend das Beste aus ihrem Leben. Sie war einfach ein wunderbar pragmatischer Mensch, kongenial mit dem englischen Nationalcharakter harmonierend.

Sie flüchtete mit Ihnen nach der Enttarnung von Klaus Fuchs aus Großbritannien. Sie haben aber erst 1977 mit dem Erscheinen von »Sonjas Rapport« vom geheimen Doppelleben Ihrer Mutter erfahren?

Von ihrer Tätigkeit in der Schweiz wusste ich sehr viele Jahre früher als von ihrer Arbeit in Fernost. Und wenn aus solchen Dingen kein Geheimnis gemacht wird, so sind sie auch kaum etwas Besonderes – damals jedenfalls, als noch viele ehemalige Widerstandskämpfer lebten, die an der »Geheimen Front« kämpften. Es hat mich schon sehr früh das Gefühl beschlichen, dass die Weltbewegtheit meiner Eltern nach oben offen war. Ich wusste, dass da Dinge waren, von denen ich nichts wusste. Und von denen ich nichts wissen sollte. Ich hätte auch nie gefragt; vielleicht weil ich zu sehr ein intellektueller Schnösel war, der niemals Ahnungslosigkeit oder Nichtwissen eingestehen würde. Im Übrigen war meine Mutter mit Blick auf ihr gewesenes konspiratives Leben von geradezu pathologischer Verschwiegenheit.

Die Geschichte Ihres Vaters ist nicht minder spannend als die Ihrer Mutter: Spanienkämpfer und dann Funker bei Sándor Radó für den Schweizer Zweig der »Roten Kapelle«. Hat er Ihnen seine Geschichte erzählt?

Mein Vater war ein Waisenkind. Schlimmer noch: Seine Mutter hat ihn bei Nachbarn abgegeben, als er etwa sechs Jahre alt war und nicht mehr abgeholt. Entsetzlicher Verrat also. Über seine traumatische Kindheit habe ich erst aus der Autobiografie meiner Mutter erfahren. Er selbst konnte zeitlebens nicht darüber reden. Ich habe ihn nach »Sonjas Rapport« viel besser verstanden. Neben einigen wenigen engsten Freunden fühlte er sich immer nur in der Familie zu Hause. Mit 22 Jahren ist mein Vater nach Spanien gegangen, um die demokratisch gewählte Volksfrontregierung in Madrid gegen den Putsch von Franco zu verteidigen. Er kämpfte in den Internationalen Brigaden, vom allerersten bis zum letzten Tag. Diese Erfahrung hat ihn endgültig zum Kommunisten gemacht.

Ihr Vater spricht hinsichtlich seiner ersten Begegnung mit Ihrer Mutter von Liebe auf den ersten Blick. Sie erinnerte sich jedoch etwas anders?

Ja, seinerseits war es Liebe auf den ersten Blick, ihrerseits erst auf den zweiten. Außerdem liebte sie die Arbeiten von Käthe Kollwitz und Franz Masareel, er von Ernst Barlach. Dies sagt vielleicht auch alles über sein Wesen aus: weniger impulsiv und expressiv, sondern eher in sich gekehrt, still, nachdenklich.

Darf ich fragen: Ist etwas dran an der vielfach behaupteten Liebesaffäre von »Sonja« mit Richard Sorge?

Da ist nichts dran, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Sorge hätte sich das nicht leisten können, ohne sein gesamtes Unternehmen zu gefährden. Er war vielleicht ein Frauenheld, aber kein kopfloser Kommunist. Schließlich war sie noch mit ihrem ersten Mann Rudi Hamburger verheiratet, der auch geheimdienstlich aktiv war. Nun gibt es aber die schöne Goethesche Redewendung von der Dichtung und der Wahrheit. Die Interaktion beider ergibt eine intensivere Wahrheit als die nackte Wahrheit für sich allein. Deshalb wohl ist Macintyre diese Liebesgeschichte aus der Feder geflossen. Ich habe nicht dagegen protestiert, weil sie mir gefiel.

Sind Ihre Enkel und Urenkel stolz auf die Groß- respektive Urgroßmutter? Interessiert sie deren Geschichte überhaupt noch?

Eigentlich nicht. Und das ist gut so. Jede Generation schreibt doch ihre eigene Geschichte. Außerdem ist auch meine Familie eine sogenannte Patchwork-Family.

Sie haben noch eine ältere Halbschwester: Janina, aus einer Liaison Ihrer Mutter mit ihrem sowjetischen Führungsoffizier »Ernst«. Wissen Sie, was aus ihm wurde?

Nein, er ist eine unbekannte Größe; auch meine Schwester hat ihn nie kennengelernt.

Glauben Sie, dass die deutsche Übersetzung des Buches von Macintyre ein Umdenken in der Bundesrepublik, ein entspannteres Verhältnis zu Agenten in sowjetischen Diensten während des Zweiten Weltkrieges wie auch danach, in Zeiten des Kalten Krieges, bewirken könnte?

Die deutsche Ausgabe erscheint zur Unzeit – mitten im Ukraine-Krieg. Die englische kam vor zwei Jahren heraus, als die politische Großwetterlage noch eine andere war und mit einem noch wesentlich aufgeschlosseneren Publikum gerechnet werden konnte. Natürlich habe ich mich gefreut, dass meine Mutter fast 20 Jahre nach ihrem Tod in England Anerkennung findet. Keine bürgerliche überregionale Zeitung, die etwas auf sich hält, ließ es sich entgehen, über Macintyres Buch in großer Aufmachung zu berichten. Seine Biografie landete auch auf der Bestseller-Liste der »New York Times«. Im angelsächsischen Raum hat es vielleicht ein »Umdenken«, wie Sie das nennen, gegeben. Mir scheint, dort wird schlicht der faszinierende Umstand gewürdigt, dass ein einzelner Mensch, eine Frau gar, durch eiserne Disziplin es schaffte, an der Kräftekonstellation dieser Welt ein klein wenig zu rütteln. Frau zu sein war in der Zeit, als meine Mutter konspirativ tätig war und noch eine anti-feministische Grundstimmung in ganz Europa vorherrschte, wohl auch eine gute Tarnung.

Und ja, ich bin gespannt, wie die Reaktion auf Macintyres Buch über meine Mutter in den alten Bundesländern ausfällt. In Ostdeutschland ist meine Mutter ja noch ziemlich bekannt.

Das Geheimdienstgewerbe gehört mit zum ältesten Handwerk der Menschheitsgeschichte. Und doch rufen enttarnte Spione der Gegenseite immer wieder hysterische Empörung hervor, wie jüngst der mutmaßliche BND-Mitarbeiter in russischen Diensten – als ob man sich selbst nicht gleicher Mittel und Methoden bedient. Wundert Sie das?

Eine kleine Episode: Längere Zeit hieß es bei uns in der DDR, Spione gebe es nur im Westen, sozusagen als letztes Überlebensmittel des faulenden Kapitalismus. Bis in Westdeutschland Anfang der 60er ein Spielfilm über Richard Sorge gedreht wurde, gleichwohl er dort eher als Frauenheld und Dandy dargestellt worden ist und seine antifaschistische Motivation eher im Hintergrund blieb. In der sowjetischen Generalität entbrannte daraufhin ein erbitterter Streit, ob man diesen Film der eigenen Bevölkerung zumuten könne. Nikita S. Chruschtschow ließ sich den Film vorführen. Sein Urteil lautete: »Warum nicht?« Sehr wahrscheinlich war es dieser Film, der den KPdSU-Generalsekretär auf den Gedanken brachte, fortan die eigenen Spione propagandistisch aufzuwerten. Man denke auch an deren Vorbildfunktion für die aufstrebende »Dritte Welt« eines Che Guevara.

Ja, Spionage ist ein Geschäft. Und böse sind immer nur die anderen. Dieser jüngst enttarnte BND-Spion in russischen Diensten scheint mir aber wohl eher eine traurige Nachgeburt. Das leitet aber zu einer anderen Frage über: Wie hältst du es mit dem Aggressionskrieg Putins? 70 bis 80 Prozent der Bürger Russlands meinen, Putin wird’s schon richten. In der Tat hat dieser etwas geschafft, nämlich sieben Jahrzehnte Sowjetunion in ein radikal abgekoppeltes, singuläres Ereignis zu verwandeln. Keine grandiose Leistung.

Das weite Russland war allerdings auch zu Sowjetzeiten kaum mehr als ein patriarchalisch regierter Feudalstaat, gesegnet mit vielen Bodenschätzen. Und ist dies bis heute geblieben. Das ist die Ausgangsbasis, von der aus wir uns allen Ernstes darum bemühen müssen, nach Wegen zu suchen, um keinen dritten Weltkrieg zu riskieren. Wer das nicht begriffen hat, hat überhaupt nichts begriffen! Gut, dass meine Mutter dies nicht mehr miterleben musste.

Wie kamen Sie dazu, Philosophie zu studieren? Hatte die bewegte, dramatische Geschichte Ihrer Eltern daran einen Anteil?

Meine Mutter war ausgebildete Buchhändlerin und – abgesehen von gewissen Kursen, in denen man Morsen etc. lernte – nicht mehr als das. Dann war sie Aktivistin der ersten Stunde. Und schließlich Schriftstellerin. Sie war von ihrer Herkunft her eine bürgerliche Frau. So konnte sie nicht von ihrer Ansicht ablassen, dass Kinder zum Erziehen da sind. Damit musste jeder von uns dreien klarkommen. Die Reibereien hielten sich aber in Grenzen.

Tatsächlich verdanke ich auch der Weltoffenheit meiner Mutter, dass ich Philosoph wurde – und das mit Herz und Seele. Ich wollte wissen, was die Welt zusammenhält. Das ist mehr als nur eine Phrase, ist selbst ein Lern- und Entdeckungsprozess. Und in diesem Prozess der Selbstfindung befinde ich mich nach wie vor. Im Gegensatz zu meiner Auffassung in jungen Jahren bin ich nicht mehr überzeugt, alles zu wissen.

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