Der Kälte ausgeliefert

Extremwetter wie beim Schneesturm von Buffalo trifft in den USA vor allem Arme und Obdachlose

  • Julian Hitschler
  • Lesedauer: 7 Min.
Eingeschneites Fahrzeug am 27. December 2022 in Buffalo, New York
Eingeschneites Fahrzeug am 27. December 2022 in Buffalo, New York

Der Wintersturm in den USA Ende Dezember hat 95 Menschenleben gekostet – mindestens. Die meisten Opfer gab es im Bundesstaat New York, vor allem in der Stadt Buffalo am Eriesee. In der Nacht vom 23. Dezember auf Heiligabend und an den darauffolgenden Tagen starben dort über 40 Menschen – teils, weil sie in ihren Fahrzeugen oder zu Fuß im Schnee stecken blieben, teils in unbeheizten Gebäuden. Diese Tragödie halten viele für vermeidbar: Behördenfehler und eine marode Infrastruktur seien für die hohe Zahl von Toten verantwortlich.

Buffalo ist starken Schneefall eigentlich gewohnt. Gerade wenn eine kalte Westfront über den Eriesee zieht, wie es am 23. Dezember der Fall war, lagern sich an seinem Ostufer massive Schneemassen ab. Doch die Stadt kämpft nicht nur mit ihrer meteorologisch exponierten Lage, sondern auch mit weiteren Herausforderungen. Der nördliche Teil des Bundesstaates New York ist eine der Regionen der USA, die am stärksten von Deindustrialisierung betroffen waren. Buffalo als ehemaliges Zentrum der Stahl- und Lebensmittelindustrie war davon nicht ausgenommen. Bis heute hat die Stadt mit Armut zu kämpfen. Das Durchschnittseinkommen von 24 000 Dollar beträgt weniger als die Hälfte des Landesdurchschnitts. In der Stadt leben nur noch halb so viele Menschen wie in den 1950er Jahren. Viele Einwohner*innen schlagen sich von Woche zu Woche durch und haben keinerlei Erspartes. Wie die Zeitung »Midland Reporter-Telegram« aus Texas berichtet, konnten viele von ihnen den offiziellen Anweisungen, Nahrungsmittel- und Getränkevorräte zu Hause bereitzuhalten, nicht nachkommen – sie konnten es sich schlicht nicht leisten.

Diese Umstände haben dazu beigetragen, dass der Wintersturm in Buffalo zur Katastrophe wurde. Die Behörden zögerten, ein Fahrverbot auszusprechen, um Lohneinbußen für die Bevölkerung zu vermeiden, weshalb sich viele Einwohner*innen gezwungen sahen, am Freitag vor Heiligabend den Arbeitsweg anzutreten – wenn kein offizielles Fahrverbot herrscht, bestehen viele Arbeitgeber*innen auf dem Erscheinen am Arbeitsplatz. Infolgedessen strandeten viele Menschen auf dem Arbeitsweg. Etwa 37 Prozent der Einwohner*innen Buffalos sind Afroamerikaner*innen, doch sind sie unter der armen Bevölkerung überrepräsentiert, die die Auswirkungen des Wintersturms besonders deutlich zu spüren bekam. So machten Afroamerikaner*innen etwa die Hälfte der Todesfälle während des Schneesturms aus.

Immer wieder zeigt sich in den USA, dass arme Menschen und die Arbeiterklasse besonders von Extremwetterereignissen betroffen sind – nicht nur in Buffalo, und nicht nur bei Schneestürmen. Als San Francisco Anfang Dezember von einer Kältewelle heimgesucht wurde, war dies für die große Anzahl von Obdachlosen in der Stadt verheerend. Viele von ihnen blieben den Elementen schutzlos ausgeliefert oder froren in durchnässten Zelten, wie der »San Francisco Chronicle« berichtete – und das nicht zum ersten Mal. Der Obdachlose Rico Mallida sagte der Zeitung, er sei dreimal neben einem toten Menschen aufgewacht, als er noch ohne feste Bleibe in Philadelphia gelebt habe. »Du wachst auf, doch die Person neben dir nicht«, so der 28-Jährige.

In Buffalo sind ebenfalls mehrere Tausend Menschen ohne festes Zuhause. Laut eines Berichts der »Buffalo News« fielen in den letzten Jahren vor allem alleinerziehende Mütter mit Kindern in die Obdachlosigkeit. Nur vergleichsweise wenige von ihnen schlafen dauerhaft im Freien oder in Notunterkünften, viele kommen temporär bei Freunden oder Verwandten unter. Einige Hundert Einwohnerinnen der Stadt leben trotzdem permanent ganz ohne ein Dach über dem Kopf und schlafen meist in öffentlichen Gebäuden wie dem Busbahnhof.

Doch unter den Opfern von Buffalo finden sich bei Weitem nicht nur Menschen am Rand der Gesellschaft – sämtliche Infrastruktur, einschließlich Feuerwehr und Rettungsdienste, brach während des Schneesturms zeitweilig zusammen. Der Sheriff von Erie County, dem Landkreis von Buffalo, benannte gegenüber dem »Midland Reporter-Telegram« die Gründe in aller Deutlichkeit: Es brauche »bessere Ausrüstung, mehr Ausrüstung«, denn man habe sich niemals ausmalen können, dass die Zustände so schlimm werden könnten.

Schon bevor der Nordosten der USA Ende Dezember unter Schneemassen versank, hatte sich für den Winter eine Energieversorgungskrise angebahnt. Laut Berichten des Wirtschaftsmagazins »Fortune« zogen die Preise für Erdgas und Heizöl in diesem Landesteil besonders empfindlich an. Obwohl die Energiepreise in den USA infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine und der gestiegenen Nachfrage nach der Corona-Pandemie insgesamt deutlich weniger dramatisch anstiegen als etwa in Europa, sind die nordöstlichen USA in dieser Hinsicht in einer besonders brenzligen Lage.

Denn trotz der Tatsache, dass fossile Produktionszentren durch den Fracking-Boom im letzten Jahrzehnt deutlich näher an die Region herangerückt sind – so hat sich Pennsylvania vom Bundesstaat des Anthrazitkohlebergbaus zu einem Hauptproduzenten von Erdgas gewandelt –, ist die Infrastruktur schlecht auf die neue Versorgungsgeografie ausgerichtet. Es fehlen Pipeline- und Raffineriekapazitäten, um den Nordosten aus den fossilen Boomregionen des Landes zu versorgen – und der Ausbau der erneuerbaren Energien läuft hier deutlich schleppender voran als im sonnigen Westen oder windigen Mittleren Westen der USA. Das Resultat: An der nördlichen Ostküste herrscht ein Versorgungsengpass mit Diesel, Heizöl, Erdgas und Strom. Gerade die Kosten fürs Heizen sind empfindlich gestiegen; viele ärmere Haushalte können die Rechnungen nicht mehr bezahlen und müssen die Temperatur im Haus empfindlich reduzieren.

Besonders verschlimmert haben die Situation in Buffalo die großflächigen und lang anhaltenden Stromausfälle. Das Stromnetz in den USA ist deutlich schlechter ausgebaut und damit fragiler als in vergleichbaren Industrieländern. Laut der Bundesbehörde für Energiefragen EIA fiel der Strom für US-Amerikaner*innen im Jahr 2018 im Durchschnitt etwa fünf bis sechs Stunden aus. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 2021 laut Bundesnetzagentur nur 12,7 Minuten. Die EIA verzeichnete einen deutlichen Anstieg der Ausfalldauer gegenüber den Jahren 2013 bis 2015, als die durchschnittliche Unterbrechung der Stromversorgung etwa drei Stunden betrug.

Verantwortlich für den Anstieg waren in erster Linie »Großereignisse« wie Wetterkatastrophen. Die Infrastruktur des Landes, der es schon seit langer Zeit an Zuverlässigkeit mangelt, ist für den Klimawandel schlecht gewappnet. Wer wohlhabend ist, kauft sich im Zweifel einen Dieselgenerator oder, immer häufiger, einen Batteriespeicher für zu Hause. In Buffalo heizen viele ärmere Haushalte mit Strom – doch bei Extremwetterlagen ist hierauf kein Verlass, denn während des Wintersturms kam es zu lang anhaltenden und großflächigen Stromabschaltungen, die natürlich auch andere Heizungsarten lahmlegten.

Dass extreme Wetterlagen arme Menschen in den USA infolge des Klimawandels besonders hart treffen werden, zeichnet sich schon längere Zeit ab. Bereits im Vierten Nationalen Klimabericht von 2018 warnten die US-Bundesbehörden davor, dass arme Gemeinden besonders unter dem Klimawandel leiden könnten. Besonders tragisch sei, wie der Fernsehsender CNBC berichtet, dass ärmere Menschen durch erfolgreiche Verbesserungen der Infrastruktur aus besser geschützten Gebieten verdrängt werden könnten – eine Art »grüne Gentrifizierung«. In New Orleans kam es nach den Zerstörungen durch den Hurrikan Katrina von 2005 und dem Wiederaufbau samt Verbesserungen der Deiche etwa zu einem massiven Bevölkerungsaustausch: Viele ärmere Menschen, darunter viele Afroamerikaner*innen, kehrten nie in die Stadt zurück.

Die größte Bedrohung sehen die meisten Klimastudien allerdings nicht in Kälteereignissen oder Stürmen, sondern in der immer erbarmungsloseren Hitze im Sommer. Hitzeeinfluss führt in den meisten Jahren die Statistik wetterbedingter Todesursachen an, wobei Schätzungen von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Laut Bloomberg könnte jeder zehnte Todesfall weltweit inzwischen zumindest zum Teil auf Klimaveränderungen zurückzuführen sein. Die US-Landarbeiter*innen-Gewerkschaft United Farm Workers verweist auf den mangelnden Arbeitsschutz im Freien, der Arbeiter*innen auf den Feldern den Auswirkungen des Klimawandels ausliefere, und verlangt die Verabschiedung eines nationalen Hitzeschutzgesetzes.

Eine Analyse der nationalen US-Umweltbehörde EPA vom September 2021 kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass arme Menschen in den USA insgesamt stärker von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein werden. Viel deutet darauf hin, dass die kaum vorhandene soziale Absicherung und die marode Infrastruktur der USA das Land vor den Auswirkungen des Klimawandels und zunehmenden Extremwetterereignissen nur schlecht schützen – und dass die größte Last dabei auf die Schultern armer Menschen fällt, in Buffalo und anderswo.

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