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Lüge und Karneval

Notizen aus dem Putinismus: In ihrem »Russlandsimulakrum« versammelt Irina Rastorgueva Meldungen und Reflexionen zum gesellschaftlich-politischen Zustand des Landes

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Irina Rastorgueva wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk geboren. In der Stadt auf der Insel Sachalin, im äußersten Osten Russlands, studierte sie Philologie und arbeitete als Dozentin für Journalistik. Sie war Redakteurin verschiedener Kulturzeitschriften, darunter die von ihr 2011 gründete Zeitschrift »ProSakhalin«. Bis 2017 war sie Dramaturgin am Tschechow-Theater Sachalin, seitdem ist sie freie Autorin und Dozentin und lebt in Berlin.

Ihr Buch »Russlandsimulakrum« versammelt sowohl Meldungen als auch Reflexionen zum gesellschaftlich-politischen Zustand Russlands und damit auch zur aktuellen Situation der Opposition gegen Putin. Es ist ein erschütternder Bericht aus einer Welt, die viele im Westen nur am Rande wahrgenommen – und vor allem nicht ernst genommen haben. Im ersten Kapitel, dass Rastorgueva »Konkrete Poesie 2021. Ein Nachrichtenportal« betitelt hat, versammelt sie Meldungen, die einen Überblick über den Zustand Russlands nach zwei Jahrzehnten Putin-Herrschaft geben.

Es gibt Nachrichten zum Umgang mit der desolaten wirtschaftlichen Lage, die auch gut ausgebildete Akademiker nicht ausschließt. Als zum Beispiel die leitende Forscherin am Nowosibirsker Institut für Zytologie und Genetik, Anastasia Proskurina, Putin auf die schlechte Bezahlung von Wissenschaftlern hinwies (umgerechnet etwa 310 Euro monatlich), ordnete der Präsident zwar an, sich mit der Situation zu befassen, gleichzeitig aber erschienen Sicherheitsbeamte bei Proskurina, »um herauszufinden, wer sie ›ermutigt‹ habe, eine ›unkoordinierte und spontane‹ Rede an den Präsidenten zu halten«. Korruption ist allgegenwärtig. So schätzt das Institut für staatliche und kommunale Verwaltung an der Wirtschaftshochschule Moskau, dass der Gesamtbetrag der Bestechungsgelder im öffentlichen Auftragswesen umgerechnet 113 Milliarden Euro beträgt, was in etwa ein Drittel des Staatshaushalts Russlands entspricht. Gleichwohl findet eine Remilitarisierung des öffentlichen Lebens statt, die auch schon vor dem Ukraine-Krieg feststellbar war. Damit geht ein Personenkult einher, etwa wenn Kindergartenkinder an der Parade zum 9. Mai 2021 teilnehmen: »In der Region Irkutsk marschieren Schulkinder aus Unarmia zu Ehren der ›Putin-Ära‹ mit Porträts des Präsidenten in der Hand.«

Das weckt Assoziationen zur Stalinzeit. Mit dem Unterschied, so Rastorgueva, dass der Putinismus sich mit seinem Kult des »Großen Vaterländischen Krieges« aus der Vergangenheit speist und nicht aus der Erwartung einer gerechten und glücklichen Zukunft wie in der Sowjetunion. »Die Verehrung der Toten erreicht im heutigen Russland ein noch nie dagewesenes Ausmaß, und vielleicht ist es das, was man als neue Ideologie betrachten sollte.« So sei es auch kein Wunder, dass Georg Orwells dystopischer Roman »1984« in den letzten Jahren zu einem der beliebtesten Bücher in Russland wurde. 2021 hat Putin mit der »Kommission zur Verhinderung der Fälschung der Geschichte zum Schaden Russlands« ein orwellhaftes Wahrheitsministerium gründen lassen.

Der zweite, in den letzten Jahren in Russland populär gewordene Autor ist Franz Kafka. Aus dessen Roman »Der Process« zitiert Rastorgueva die Stelle: »… es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, dass man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird«. So wie der Bürger Semjonow, der kommentarlos ein Foto auf seiner Social-Media-Seite postete, auf dem der Abgeordnete Witali Milonow aus Putins Partei »Einiges Russland« mit einem T-Shirt mit der Aufschrift »Orthodoxie oder Tod« zu sehen ist. Semjonow wurde wegen der Veröffentlichung des Fotos, das das Gericht als extremistisch einstufte, zu einer Geldstrafe verurteilt. Als er postete, dass er für das Posting des Fotos verurteilt worden war, verurteilte ihn das Gericht zu einer weiteren Geldstrafe – »Das Gericht erhob keine Ansprüche gegen den Abgeordneten Milonow.«

Der Ablauf der Gerichtsverfahren, in denen im Prinzip jeder aufgrund der von Putin eingeführter Gummiparagrafen wegen »Extremismus« und »Aufruf zum Terrorismus« verurteilt werden kann, erinnert Rastorgueva an die antike Tragödie. Auch dort stand, wie das Urteil im heutigen Russland, das Schicksal des Helden bereits vorher fest. Die Parallele von Gerichtsverhandlung und Theater hat dabei in Russland Tradition. Nicht nur, dass viele der berüchtigten Schauprozesse während des Stalinismus in Theatern stattfanden; es existiert sogar eine Filmaufnahme aus den 1930er Jahren, in der sich eine Angeklagte nach ihrer Verurteilung erhebt und vor dem klatschenden Publikum verneigt – so, als hätte sie eine Rolle in einem Theaterstück besonders gut gespielt.

Wo die Wirklichkeit zu einem »Theater der Grausamkeit« wird, hat das politische Theater keine Chance, schreibt Irina Rastorgueva. »Es gibt eine permanente Simulation des aktiven Lebens auf dem Land: Die Duma erlässt unnötige Gesetze, es werden nicht existierende Feinde erfunden, eine Pseudo-Opposition sitzt im Parlament, die echte Opposition sitzt wegen falscher Anklagen im Gefängnis, die Polizei produziert selbst unablässig Terroristen. Und egal, was man anfasst, es ist nicht echt. Hier sind Wahlen nur eine Simulation, und Proteste sind nur ein Vorwand für Repressionen. … Alles ist Lüge, Karneval, ein Theater, nein, ein Zirkus. Russland ist heute ein großes Simulakrum.« Die Aussichten, dass sich das ändern könnte, sind düster. Nach Irina Rastorgueva haben die Menschen in Russland das Interesse an der Politik verloren und sitzen »auf der Spitze einer Propagandanadel«.

Irina Rastorgueva: Russlandsimulakrum. Kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland. Matthes & Seitz, 274 S., br., 20 €.

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