Terra incognita

»1001 Buch«: Stefan Weidner präsentiert die Literaturen des Orients

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Muslim im Gebet vertieft
Muslim im Gebet vertieft

Es ist ein Wunderwerk. Dieses Buch führt in Welten, die wir bestenfalls aus der Touristenperspektive kennen, also ungenau – oder gar nicht. Über die wir uns dennoch gern Urteile erlauben, der postkolonialen, gar kolonialen Perspektive nicht bewusst. Ein Blick auf den Globus blamiert unser Selbstbild. Westeuropa ist ein winziges Fleckchen verglichen mit dem Rest der Welt. Der »Orient«, wie er in diesem Buch betrachtet wird, besteht aus zwanzig zum Teil höchst unterschiedlichen Ländern und erstreckt sich vom Atlantik bis zum persischen Golf.

Ein Wunderwerk, allein schon was die Fülle des Stoffes betrifft, die Stefan Weidner bewältigt hat. Beginnend mit dem Koran, der in zahlreichen Übersetzungen existiert, die hier auch verglichen werden, über die klassische arabische Prosa, die vom 10. Jahrhundert an entstand, bis zu der so vielgestaltigen Lyrik und Prosa der Gegenwart durchwandern wir eine Terra incognita »ungeahnten Ausmaßes, voller ungehobener Schätze«. Und haben dabei einen »Reiseführer«, der begeistern kann, weil er selbst begeistert ist. »Die Literaturen des Orients« – der Untertitel ist keineswegs zu ambitioniert für diesen Band, hinter dem nicht etwa ein ganzes Autorenkollektiv steht, sondern ein einzelner Autor, der bei seinen literaturhistorischen Einordnungen auch das eigene Leseerlebnis nicht zu kurz kommen lässt. Die Vorstellung einzelner Werke – jedes Kapitel ein Essay für sich – wechselt ab mit essayistischen Porträts einzelner Autorinnen und Autoren, die Stefan Weidner meist auch persönlich kennt.

Islamwissenschaftler, Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker – Stefan Weidners Qualifikationen finden sich hier bestätigt: in einem tiefen Verständnis für die hierzulande vielen so fremde Religion, besonders in ihrer mystischen Ausprägung, in einer literarisch mitreißenden Sprache, der Fähigkeit, die Originale mit ihren Übersetzungen zu vergleichen und auf die im einzelnen vorgestellten Werke dermaßen neugierig zu machen. Leseerlebnisse, die einem entgangen sind: Man möchte sie nachholen und könnte das auch, weil viele der besprochenen Werke auf Deutsch zu haben sind.

»Orient«: Stefan Weidner ist sich im Klaren, dass dieser Begriff »vom Kolonialismus missbraucht wurde und die damit einhergehenden Klischees nach wie vor rassistisches Denken befördern können«, gibt aber zu bedenken, dass es lange schon eine westliche Orientsehnsucht gab und bis heute gibt. »Eine wesentliche Einsicht aus den hier vorgestellten Lektüren lautet, dass sie mehr und anderes zeigen, als wir zu sehen gewohnt sind und oft auch zu sehen bereit sind.« Auch wenn gerade in der Gegenwart Religion und Literatur in Konkurrenz zueinander stehen und sich voneinander abgrenzen, werden diese Literaturen in vom Islam geprägten Sprachen verfasst – Arabisch, Persisch, Türkisch. Wobei, was die Gegenwart betrifft, auch Autorinnen und Autoren Raum eigeräumt wird, die in europäischen Sprachen schreiben und dennoch ihren biografischen Bezug zum Orient behalten.

Auch wenn wir mit Stefan Weidner auf Reisen durch verschiedene, oft miteinander konkurrierende Länder gehen, macht er uns klar, dass die Vorstellung vom Nationalstaat »ungeachtet der über ein Jahrtausend alten gemeinsamen Geschichte« ein »europäischer Import« ist. Ein großer Kulturraum wurde vom Kolonialismus zerschnitten. Willkürliche Grenzziehungen, Nationalismus und auch die Folgen einer Modernisierung von außen hatten zur Folge, dass diese Gesellschaften weitaus stärker gespalten sind als die europäischen und vielfach nur auf totalitäre Weise zusammengehalten werden.

Dass die moderne Literatur »in aller Regel auf der regimekritischen Seite des weltanschaulichen und politischen Spektrums« steht, ist nicht anders zu erwarten. Überraschend indes ist die Feststellung, dass der Buchmarkt in der arabischen Welt ein Wachstumsmarkt ist. »Anders als in Europa, wo die Literatur von den sozialen Medien in die Defensive gedrängt wird«, sei dort »ein von Krisen und Kriegen getriebener Aufschwung der literarischen Aktivitäten zu verzeichnen«. Wobei die wenigsten Autorinnen und Autoren vom Schreiben leben können. Ein öffentliches Fördersystem für Literatur fehlt. »Dadurch entsteht die Literatur zwar unter hochgradig prekären Bedingungen, zugleich aber in einem Raum, der gegen ökonomisch motivierte Erwartungen und sich daraus ergebende ästhetische Vorgaben weitgehend geschützt ist.« Aber geht in unserer globalisierten Welt nicht auch vom westlichen Buchmarkt ein ökonomischer Einfluss aus? Inwieweit wird Kunst aus den beschriebenen Ländern auch instrumentalisiert im Sinne »wertebasierter Außenpolitik«? Gibt es Alternativen zum westlichen Liberalismus für einen gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne menschlicher Emanzipation? Zumal sich Stefan Weidner auch immer wieder explizit der Literatur von Frauen widmet, entsteht bei mir auch die Frage, welche Dialektik zwischen berechtigten Forderungen nach Gleichberechtigung und verhärteten patriarchalischen Strukturen besteht. In einer Zeit des Kräftemessens um eine multipolare Weltordnung, welche Chance haben da verbindende Tendenzen? Was kann der Weg sein zu einem friedlicheren Miteinander?

Da verspreche ich mir viel vom Gespräch mit Stefan Weidner, der ja auch mit seinem vorigen Band »Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart« schon einmal bei einem nd-Literatursalon war. Und ganz besonders interessiert mich, inwieweit die »Vorstellung vom Orient« nach wie vor »ein utopisches Potenzial bereithält«, wie er zu Beginn des Buches schreibt. Dass Literatur generell ein solches auf Verständigung zielendes Potenzial bereithält – unbenommen. Dass Werke aus dem Orient unseren Blick erweitern und einseitige Sichten durchbrechen können, gehört dazu. Aber was wäre es konkret, woraus sich Korrekturen für westliche Weltbilder ergeben? Ehe die Literatur der Gegenwart an der Reihe ist, dürfen wir uns in diesem Buch ja an vielen Dichtern aus ferner Vergangenheit erfreuen: an Ibn al-Fārid aus Kairo (1181–1231), dem »arabischen Hölderlin«, an der Liebesekstase von Ibn Arabi (1165–1240), an Hafis, Rumi, Saadi, den persischen Dichtern, die schon Goethe begeisterten. So wie auch Stefan Weidner selbst, der das Buch auch im Sinne eines geistigen Islam schrieb, welcher »anders als Gotteskrieger, koranschwingende Demagogen und Selbstmordattentäter in den Massenmedien natürlich nicht sichtbar« wird. »Es ist ein universalisierter Islam, und er hat sich in seinem geschichtlichen Heranwachsen christliche, spätantike, zoroastrische, indische Motive einverleibt, begreift sie als Teil des eigenen Erbes. … Den zunehmend kürzeren Halbwertzeiten unseres kulturellen Gedächtnisses und damit unseres Selbstverständnisses stehen in Gestalt dieser Dichter Ewigkeitswerte gegenüber, denen wir schon in naher Zukunft nicht mehr viel entgegenzusetzen haben.«

So erkenne ich in diesem Buch neben der literarischen und der politischen auch eine spirituelle Dimension, die es mir umso interessanter macht.

Stefan Weidner: 1001 Buch. Die Literaturen des Orients. Edition Converso, 432 S., geb., 35 €.
nd-Literatursalon mit Stefan Weidner: 1. Februar, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1. 10243 Berlin.

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