Die Migräne-Attacke parieren

Für Migränepatienten gibt es neue Therapieoptionen, auch jenseits von Tabletten

Auch wenn es Medikamente gegen Migräneattacken gibt: Erst einmal ist viel Ruhe nötig.
Auch wenn es Medikamente gegen Migräneattacken gibt: Erst einmal ist viel Ruhe nötig.

Migräne ist zwar häufiger ein Frauenleiden, tritt aber durchaus auch bei Männern auf. Die neurologische Erkrankung wird mit übelsten Kopfschmerzen assoziiert und zeigt sich in Form von mehr oder weniger häufigen Anfällen. Schon Tage bis Stunden vorher können Betroffene Vorzeichen spüren. Diese sind äußerst vielfältig und reichen von Stimmungsschwankungen und Nervosität über Euphorie bis zu Appetitlosigkeit. Manchmal quält auch Heißhunger auf Süßes oder fette Speisen. Andere Patienten leiden in dieser Phase unter Verstopfungen, Müdigkeit oder Benommenheit.

So unterschiedlich die Symptome vor der eigentlichen Attacke sind, so variabel zeigt sich der Anfall selbst. Häufigstes Merkmal ist ein heftiger, häufig einseitiger Kopfschmerz, der als pulsierend oder pochend wahrgenommen wird. Verbunden ist die ohnehin unangenehme Empfindung mit Licht- und Lärmempfindlichkeit und auch Übelkeit (bei etwa 80 Prozent der Patienten), fast immer mit Appetitlosigkeit.

Etwa die Hälfte der Betroffenen muss sich erbrechen, zehn Prozent sind während des Anfalls überempfindlich gegenüber bestimmten Gerüchen. Diese können auch als Auslöser wirken, etwa wenn süßes Parfüm oder Zigarettengeruch erkannt wird. Ist der Kopfschmerz einseitig, kann er innerhalb einer Attacke, aber auch von einem Anfall zum nächsten die Seite wechseln.

Variabel ist auch die Intensität der Attacken. Nach der Definition der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft dauern diese zwischen vier und 72 Stunden. Bei Kindern seien sie kürzer und können sich auf heftige Übelkeit, Erbrechen und Schwindel begrenzen, also ohne Kopfschmerz vorübergehen. Als Maß der Schwere der Erkrankung gilt häufig die Anzahl der Attacken im Monat. Mitunter sind es bis zu 20 in diesem Zeitraum.

Fast die Hälfte aller Krankschreibungen wegen Kopfschmerzen sind durch Migräne verursacht. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass Arbeitsunfähigkeit wegen Kopfschmerzen insgesamt zwischen 2011 und 2017 um rund 44 Prozent insgesamt anstieg. Bei Männern lag der Anstieg sogar bei 48 Prozent. Dabei sind Kopfschmerzen durch neurologische Schäden nicht einmal berücksichtigt.

In Deutschland leiden nach neueren Zahlen zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung immer wieder unter Migräne. Von diesen acht bis zehn Millionen Menschen erhält aber nur ein Teil die richtige Therapie, nach einer Untersuchung von 2019 waren es nur knapp zwei Drittel. Insofern war es auch an der Zeit, die S1-Leitlinie der ärztlichen Fachgesellschaften, deren letzte Fassung von 2018 stammte, zu überarbeiten. Daran beteiligten sich die Neurologen und Kopfschmerzspezialisten. Vorgestellt wurde die neue Version Anfang Januar.

Leitlinien sind systematisch wissenschaftlich entwickelte Hilfen für Ärzte, in denen der jeweilige Forschungsstand zu Therapien zusammengefasst wird. Bei der Migräne-Leitlinie, in der es um Therapie und Prävention geht, handelt es sich um eine S1-Leitlinie, also eine Handlungsempfehlung von Expertengruppen. S2- oder S3-Leitlinien haben höhere Qualitätsanforderungen an die Systematik der Literaturrecherche und -bewertung.

Für die Migränetherapie stehen verschiedene Medikamente zur Verfügung. Laut dem Neurologen Charly Gaul aus Frankfurt am Main helfen vielen Patienten schon die freiverkäuflichen Schmerzmittel, darunter ASS, Ibuprofen oder Naproxen, gut bei einer akuten Attacke. Probleme könnte es hier bei einem Übergebrauch geben, darunter Leber- und Nierenschäden, Magenschleimhautentzündungen, oder Blutungen. Auch eine Abhängigkeit kann entstehen.

Sollten die genannten Analgetika nicht ansprechen, werden als nächstes Triptane empfohlen. Diese ähneln dem Botenstoff Serotonin, der für die Entstehung einer Migräne entscheidend ist. Der Haushalt dieses Hormons im Gehirn ist dabei aus dem Gleichgewicht geraten, Blutgefäße erweitern und entzünden sich. Triptane verengen die Gefäße in der Hirnhaut wieder, die Entzündung kann sich zurückbilden. Zudem unterdrücken diese Medikamente die Weiterleitung des Schmerzsignals und bekämpfen auch Begleitsymptome wie Übelkeit, Erbrechen sowie die Licht- und Lärmempfindlichkeit.

Falls auch diese Medikamentengruppe nicht funktioniert oder nicht geboten ist, weil sie bei Herzinfarkt- oder Schlaganfallpatienten die Gefäße gefährlich verengt, kommen Gepante und Ditane ins Spiel. Aus jeder dieser beiden Gruppen wurde ein Mittel gerade neu zugelassen und könnte Mitte des Jahres die Apotheken erreichen. Nach Studienlage sind die Medikamente ähnlich wirksam wie die Triptane. Ditane wirken, wie die Triptane, ebenfalls an Serotoninrezeptoren, aber an anderen Subtypen.

Gegen Migräne helfen aber nicht nur pharmazeutische Produkte. Auf das große Spektrum anderer Therapien verweist Stefanie Förderreuther von der Neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gründe dafür, diese Therapien auszuprobieren, gebe es einige: »Nicht jeder braucht eine medikamentöse Therapie, nicht jeder will eine und nicht jeder
spricht (ausreichend) darauf an.« Die beste Wirksamkeit hätten zudem Kombinationen aus Medikamenten und anderen Therapien. Die Münchner Neurologin nennt unter anderem Entspannungstechniken oder das Trigger-Management. Bei letzterem bemühen sich Betroffene, auf »verdächtige« Lebensmittel wie Käse oder Rotwein zu verzichten. Andere meiden starke körperliche Anstrengung oder helles Licht. Experten empfehlen jedoch, sich auf solche Vorsichtsmaßnahmen nicht zu sehr zu fixieren. Denn auch das bringt Stress und könnte sich ungünstig auswirken.

Zu den empfohlenen Behandlungswegen gehört auch die kognitive Verhaltenstherapie. Hier lernen Patienten, falsche Denkmuster durch weniger schädliche Gedanken zu ersetzen, darunter etwa eine bessere Stressbewältigung und so auch einen Umgang mit der Angst vor einer neuen Attacke.

Laut Leitlinie ist Ausdauersport ebenfalls effektiv. Einige Studien zeigten, dass bei regelmäßiger Betätigung in diesem Bereich die Schmerzschwelle ansteigt und sich das vegetative Nervensystem beruhigen lässt. Es wird jedoch empfohlen, auf richtige Intensität und Dauer zu achten. Bei einigen Patienten könnten maximale Belastungen ebenfalls Migräne-Anfälle auslösen. Vor allem Sporteinsteiger müssen anfangs eine gute Wahrnehmung der eigenen Grenzen entwickeln.

Positive Erwähnung findet in der Leitlinie ein kleiner Apparat zur nicht-invasiven Neurostimulation. Das Gerät wird mit Klebeelektroden im Stirnbereich befestigt, die Impulse sprechen einen Nerv oberhalb der Augenhöhle an. Geeignet ist es sowohl bei akuten Attacken, bei denen in einer Studie eine signifikante Schmerzlinderung nach 60 Minuten erreicht wurde, als auch für die Prophylaxe. Hier kommt das Gerät 20 Minuten täglich zum Einsatz. Mehr als die Hälfte der Anwender waren mit dem Effekt zufrieden. Jedoch werden die Kosten von 379 Euro nicht von den Krankenkassen übernommen. Geeignet sei das Verfahren für Patienten mit weniger als zehn Migräneattacken im Monat, erklärt Förderreuther.

Die Münchner Neurologin verweist auch darauf, dass in der Leitlinie einige Methoden negativ bewertet wurden: Gegen Migräne nachweislich unwirksam sind demnach Nahrungsergänzungsmittel, Probiotika, homöopathische Behandlungen sowie die invasive Neurostimulation (bei der eine Elektrode ins Gehirn implantiert wird) oder operative Eingriffe an bestimmten Stirnmuskeln.

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