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Halt die Welt an

»Stop-Zemlia« erzählt von Jugendlichen in der Ukraine zwischen Schulstress und Verliebtsein – vor dem russischen Angriffskrieg

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Zerrissenheit zwischen Dazugehören-Wollen und dem Wunsch, man selbst zu sein, ohne sich anzupassen
Die Zerrissenheit zwischen Dazugehören-Wollen und dem Wunsch, man selbst zu sein, ohne sich anzupassen

Masha und ihre Freund*innen stehen kurz vor ihrem Schulabschluss. Die drängende Frage in ihrem Umfeld wird immer lauter: Wie geht’s für dich weiter, was machst du nach der Schule? Als ob 17 ein Alter wäre, in dem man schon wüsste, wer man einmal sein will. Auf dem Schulhof spielen sie ein Spiel, das heißt »Stop Zemlia« – Halt die Welt an.

Regisseurin Katerina Gornostai hat mit »Stop-Zemlia« einen authentischen Coming-of-Age-Film gedreht, der das Leben von vier jungen Menschen in der Ukraine vor dem Angriff Russlands in eindringlichen, atmosphärischen Bildern festhält – zwischen Schulstress, Verliebtsein und Suche nach der eigenen Identität. Im Zentrum stehen die zurückhaltende und verträumte Masha (Maria Fedorchenko) und ihre besten Freund*innen Senia (Arsenii Markov) und Yana (Yana Isaienko). Die drei verbringen den Großteil ihrer Freizeit zusammen, reden und hören Musik, manchmal küssen sie sich. Unaufgeregte und trotzdem intensive Szenen, die das Lebensgefühl im Alltag behutsam einfangen.

Es ist wenig überraschend, dass Liebe und sexuelle Orientierung zu den wichtigsten Themen gehören, die die Jugendlichen umtreiben. Letzteres scheint aber vor allem für die Eltern von Bedeutung zu sein, die mit homophober Besorgnis über ihre Kinder wachen. Senia erzählt Masha, dass sein Vater ihn gefühlt jedes Mal, wenn er nach Hause kommt, fragt: »Wo warst du? Was hast du gemacht? Bist du schwul?« Doch Senia zuckt mit den Achseln und sagt, dass er wohl eher bisexuell sei, denn gerade ist er in ein Mädchen verliebt. Ihren Namen will er nicht nennen, aber es spricht Bände, wie er Masha ansieht. Doch die hat nur Augen für den unnahbaren Sasha (Oleksandr Ivanov), dem seine enttäuschte Mutter das Leben schwer macht. Und dann ist da noch der anonyme User auf Instagram, mit dem Masha sich im Unterricht Nachrichten hin- und herschreibt und von dem sie hofft, dass es Sasha ist.

Dass das Smartphone zentraler Bezugspunkt ist, vermittelt der Film an vielen Stellen, aber an keiner so schön wie in der Szene, die Masha und ihre Freund*innen beim gemeinsamen Übernachten in Mashas Zimmer zeigt. Die drei liegen einträchtig nebeneinander im Bett, machen das Licht aus und sagen sich Gute Nacht. Dann greifen sie zu ihren Smartphones, und man sieht die drei vom Bildschirmlicht erhellten Köpfe sanft in der Dunkelheit schimmern.

Trotz vieler Gruppenszenen verliert der Film nie den Fokus auf die einzelnen Figuren. Wenn die Jugendlichen in der Schule oder mit Freund*innen unterwegs sind, greift die Kamera immer wieder bestimmte Personen heraus, beobachtet sie und zeigt ihr Gesicht in Großaufnahme. Das laute Durcheinanderreden in der Gruppe geht einher mit einer ruhigen individuellen Nachdenklichkeit. So fängt die Kamera die Zerrissenheit zwischen Dazugehören-Wollen und dem Wunsch, man selbst zu sein, ohne sich anpassen zu müssen, in starken Bildern ein.

Die Geschichten der Figuren von »Stop-Zemlia« könnten sich an vielen Orten auf der Welt genauso zutragen; es dürfte kaum junge Menschen geben, die sich nicht darin wiederfinden – oder ältere Menschen, die sich an ihre eigene Jugend erinnert fühlen. Nur an einer Stelle wird man gewahr, wo man sich befindet – nämlich in einem Land, in dem seit 2014 Krieg herrscht. In einer Unterrichtseinheit, die auf den Wehrdienst vorbereitet, lernen die Schüler*innen ein Gewehr zusammenzubauen, der Lehrer erklärt ihnen das Schießen. Es macht beklommen, mit welcher Selbstverständlichkeit die 16- und 17-Jährigen, die man gerade noch beim heimlichen Rauchen auf dem Schulhof beobachtet hat, nun das Schießen üben. Nur Senia hält es nicht aus in dem Raum. Masha folgt ihm, als er nach draußen geht, und fragt ihn, ob er das »dort« auch gehört habe, das Schießen. Es ist der einzige Hinweis im Film auf den Krieg, der damals noch auf den Donbass begrenzt war.

Es ist nur eine von vielen intensiven Momentaufnahmen, die sich zu einem Mosaik fügen, das wie ein Ausschnitt aus dem wirklichen Leben wirkt und nicht wie die Verfilmung eines Drehbuchs. Keine dramatische Geschichte, auf die Inszenierung von Skandalen und Lebenskrisen wird verzichtet. Regisseurin und Autorin Gornostai setzt auf Authentizität statt auf Drama. »Stop-Zemlia« ist ihr erster Spielfilm in voller Länge, vorher hat sie Dokumentarfilme gedreht. Dokumentarische Formen machen sich auch in diesem Film bemerkbar: Zwischen Szenen, die die Jugendlichen in der Schule, auf Partys oder zu Hause zeigen, sind immer wieder Interviewsequenzen montiert, in denen die Darsteller*innen aus Sicht ihrer Figuren erzählen, wie es sich anfühlt, verliebt zu sein, ob sie einsam sind, und welche Pläne sie für die Zukunft haben.

Für diese Szenen gab es kein Drehbuch, die Darsteller*innen konnten frei improvisieren und ihre eigenen Erfahrungen einfließen lassen. Gornostai hat für den Film mit Jugendlichen ohne Schauspielerfahrung gearbeitet und die Figuren zusammen mit ihnen entwickelt. Die Szenen wirken durchweg echt und ungekünstelt – sogar die träumerischen und leicht surreal angehauchten Sequenzen, die sparsam eingestreut werden. Manchmal will man am liebsten »Stop Zemlia« rufen und sie zum Anhalten bewegen, aber meistens ist man doch froh, dass sich die Erde weiterdreht und man noch so viel vor sich hat.

»Stop-Zemlia«, Ukraine 2021. Regie: Katerina Gornostai. Mit Maria Fedorchenko, Arsenii Markov u.a. 122 Min, Kinostart: 9.2.

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