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Lehrkräftemangel: Die Nerven liegen blank

Alleine der Vorschlag einer Kommission, wonach Lehrer mehr arbeiten sollen, sorgt für Entrüstung. Auch in Thüringen, wo dies gar nicht so viele Pädagogen betreffen würde

  • Sebastian Haak, Erfurt
  • Lesedauer: 7 Min.

Es war abzusehen, dass die Diskussion sich so entwickeln würde, wie Olaf Köller es prophezeit hatte. »Natürlich wird es Gegenwind von den Lehrerverbänden geben, die sich schützend vor die Lehrkräfte stellen«, hatte der Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz vor wenigen Tagen gesagt, als das Gremium Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel abgegeben hatte. Das Gutachten enthält Ratschläge für eine Soforthilfe, um den Notstand an Schulen zu lindern. Es geht um die Einstellung von Quereinsteigern, Weiterqualifizierungen – damit Gymnasiallehrer auch an anderen Schulen arbeiten können, wo die Engpässe am größten sind – oder um die Entlastung von Verwaltungsaufgaben.

Auf den Seiten 11 und 12 des Papiers wird es besonders kontrovers. Dort fordert die Kommission, kurz SWK genannt, Lehrer in Teilzeitarbeit dazu auf, künftig mehr und am besten in Vollzeit zu unterrichten. Das sollten die Länder nicht nur als Bitte an die Pädagogen herantragen, sondern entschlossen durchsetzen. »Die SWK empfiehlt, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit zu begrenzen«, heißt es in dem Papier. »Hier liegt die größte Beschäftigungsreserve. Bereits eine maßvolle Aufstockung der Arbeitszeit aller teilzeitbeschäftigten Lehrkräfte hätte erhebliche Effekte.« Lehrern solle nur in Ausnahmefällen noch erlaubt werden, weniger als 50 Prozent – gemessen an einer Vollzeitstelle – zu arbeiten; zum Beispiel dann, wenn sie eigene Kleinkinder zu betreuen haben.

Die große Hoffnung der Kommission: Dadurch soll der massive Unterrichtsausfall an den Schulen gestoppt werden. Seit Jahren schon spitzt sich nämlich der Lehrkräftemangel in allen Bundesländern zu, weil gleich mehrere Faktoren zusammenkommen: Die Schülerzahlen sind in den vergangenen Jahren beständig gestiegen, nicht zuletzt wegen des Zuzugs geflüchteter Kinder und Jugendlicher. Dagegen stagniert die Zahl der Lehramtsstudierenden oder ist bisweilen sogar rückläufig, während die Zahl der Pensionierungen weiterhin hoch ist. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht davon, dass die Politik auf diese Entwicklungen erst viel zu spät reagiert habe.

Eine rasche Kehrtwende einzuleiten, ist allerdings nicht einfach. Darüber wird seit vielen Monaten heftig diskutiert. Schließlich dauert die Ausbildung von Nachwuchslehrkräften an den Hochschulen lange, und bei Quereinsteigern muss auf die fachliche und pädagogische Qualität geachtet werden, ebenso bei der Zulassung von ausländischen Fachkräften. Ein Notstand, wie es ihn derzeit an den Schulen gibt, lässt sich damit nicht schnell regulieren. Potenzial sieht die Kommission daher bei Teilzeitkräften. Sie unterrichten bereits und müssen nicht erst noch eingestellt oder qualifiziert werden.

So einleuchtend das Argument der SWK auch klingen mag, der Widerstand dagegen ist vehement und flaut auch zwei Wochen nach Veröffentlichung des Gutachtens nicht ab. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht ein Lehrer-Lobbyist zu dem Mehrarbeitsvorschlag äußert.

Die Thüringer GEW beispielsweise nennt den Vorstoß der Kommission einen »Ausdruck ihrer Hilflosigkeit«. Die Idee, Lehrer sollten mehr arbeiten, verkenne völlig die gegenwärtige Situation an den Schulen. Die Überlastung der Lehrkräfte sei nämlich allgegenwärtig; nicht zufällig gebe es eine anhaltend hohe Zahl von langzeiterkrankten Lehrern. Viele Pädagogen würden daher versuchen, so früh wie möglich in den Ruhestand zu kommen, »um den auf Dauer krankmachenden Arbeitsbedingungen zu entfliehen«. Die Landesvorsitzende der Bildungsgewerkschaft, Kathrin Vitzthum, sieht daher gerade in Teilzeit-Modellen für Lehrer einen Beitrag zum Schutz von deren Gesundheit. »Daran werden wir festhalten, denn niemand arbeitet ohne gute persönliche Gründe in Teilzeit«, sagt sie.

Auch die Stellungnahme des Thüringer Lehrerverbands TLV ist unmissverständlich. Die Vorschläge der Kommission seien »ausnahmslos abzulehnen, und zwar mit aller Vehemenz«, sagt Tim Reukauf, der Mitglied der erweiterten TLV-Landesleitung ist. »Versäumnisse der Politik sollen nun brutal auf dem Rücken derjenigen ausgetragen werden, die am wenigsten dafür etwas können: die Lehrerinnen und Lehrer, die sowieso schon seit Jahren in einem System absoluten Mangels tagtäglich bis an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinaus gehen.« Die Arbeitsbedingungen in den Schulen seien nur noch mit dem Wort »prekär« treffend zu beschreiben.

Doch so erwartbar diese Reaktionen auf die Vorschläge der Kommission sind: In Thüringen überraschen sie dennoch. Denn die Vehemenz, mit der sich die Lehrerverbände und Erziehungsgewerkschaft im Freistaat gegen den Mehrarbeitsvorschlag wehren, erweckt den Eindruck, dass Tausende und Abertausende Lehrer im Freistaat bald viel mehr arbeiten müssten, wenn die Idee tatsächlich umgesetzt würde.

In der Realität ist das aber nicht so. An den staatlichen Schulen gibt es gemessen am Bundesdurchschnitt nämlich relativ wenige Pädagogen, die in Teilzeit arbeiten. Nur etwa jede fünfte Lehrkraft unterrichtet laut dem Thüringer Bildungsministerium mit reduzierter Stundenzahl (22 Prozent). Wobei Frauen auch an staatlichen Schulen deutlich häufiger in Teilzeit arbeiten als Männer.

Im Bundesdurchschnitt liegt die Teilzeitquote bei Lehrern dagegen nach Angaben des Bundesamtes für Statistik bei 40 Prozent, was vor allem daran liegt, dass es in den westdeutschen Ländern insbesondere für Frauen – anders als im Osten – üblich ist, einen Teilzeitjob zu haben. In Bremen und Hamburg beispielsweise arbeiten 52 Prozent der Lehrkräfte in Teilzeit, in Baden-Württemberg 56 Prozent, in Schleswig-Holstein 44 Prozent.

Nach Einschätzung des Erfurter Bildungsministeriums würde es deshalb für die Unterrichtsabsicherung kaum etwas bringen, dem Vorschlag der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission zu folgen und die Teilzeitmöglichkeit für Lehrer stärker zu reglementieren. Das ist ein zentraler Grund, warum Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke) der Meinung ist, dass diese Idee in Thüringen anders diskutiert werden müsse: »Wir haben hier kein akutes Problem in diesem Bereich.« Aber auch er will dafür sorgen, dass weniger Unterricht ausfällt, und entsprechende Maßnahmen einleiten. Dabei könne es jedoch nicht nur um einseitige Mehrbelastung von Lehrern gehen, »sondern auch um Entlastungen, so etwa von nicht pädagogischen Aufgaben«.

Ähnliches ist auch von Vertretern der freien Schulen zu hören, die tatsächlich viel mehr Lehrer mit reduzierter Stundenzahl in ihren Einrichtungen beschäftigen als der Freistaat in seinen Schulen. Zuletzt hat die Zahl der in Teilzeit arbeitenden Lehrer an den Schulen in freien Trägerschaft die Zahl der vollzeitbeschäftigten Lehrer sogar leicht überholt: Im Schuljahr 2021/22 waren dort nach amtlichen Daten 991 Lehrer in Teilzeit und 951 in Vollzeit angestellt. In den Jahren davor war die Situation vergleichbar.

Die freien Träger stehen einer Teilzeit-Anstellung von Pädagogen deutlich offener gegenüber. Es gebe eine »arbeitnehmerfreundliche Anstellungspraxis«, die dieses Jobmodell fördert, erklärt Christian Werneburg, Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft der freien Schulträger. Auch er steht dem Mehrarbeitsvorschlag der Kommission eher zurückhaltend gegenüber, wenngleich er ihn nicht völlig ablehnt. Eine Aufgabenentlastung der Lehrkräfte von Organisations- und Verwaltungsaufgaben durch verschiedene Assistenzkräfte könne ein guter Weg sein, »den vorhandenen Lehrkräften wieder mehr Zeit für die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen«. Das entspricht ziemlich genau der Idee, die auch Holter hat. »Möglicherweise tragen diese Entlastungen dann dazu bei, wieder mehr Pädagoginnen und Pädagogen für eine Vollzeitbeschäftigung zu gewinnen«, hofft Werneburg.

Viel wichtiger als eine Debatte über Voll- oder Teilzeit sei deshalb die Einsicht, dass sich der bundesweite Lehrkräftemangel nicht durch finanzielle Anreize oder Verbeamtung beheben lasse. Das habe auch die Kommission erkannt, meint Werneburg. Vielmehr müsse der Lehrerberuf für viele Menschen wieder eine Berufung werden und »den Pädagoginnen und Pädagogen die Freude am Unterricht lassen«. Seine Schlussfolgerung ist daher eindeutig: »Geld allein macht weder glücklich, noch löst es die Probleme unseres Bildungssystems.«

Alles in allem zeigt die Vehemenz, mit der die Debatte um das Kommissionspapier in Thüringen geführt wird, wie sehr die Nerven bei den Akteuren im Bildungswesen blank liegen und wie schwer sich selbst kleinste Veränderungen durchsetzen lassen. Bereits Vorschläge werden umgehend zerredet. Was aber passiert, wenn sich substanziell nichts ändert an den Strukturen in den deutschen Schulen und der Schulverwaltung, das hat Köller – der Mann von der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission – ebenfalls schon vorausgesagt: Dann werde Deutschland »Generationen von Bildungsverliererinnen und -verlierern produzieren«.

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