Und tschüss, katholisches Mädchenpensionat

Zum 50. Todestag von Brigitte Reimann sind der Roman »Die Geschwister« sowie ihre Tagebücher in einer erweiterten Neuausgabe zu lesen

  • Monika Melchert
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie war noch keine 30 Jahre alt, als die Geschichte mit ihrem Bruder, der in den Westen gegangen war, Brigitte Reimann zu einem Roman inspirierte, den man jetzt endlich in seiner authentischen Fassung lesen kann – 60 Jahre nach seiner Entstehung. Es ist einer jener seltenen Glücksfunde, wenn ganz unerwartet ein Manuskript entdeckt wird, von dem niemand etwas ahnte. Bei Sanierungsarbeiten an einem Haus in Hoyerswerda stießen die Handwerker »in einer Art Harry-Potter-Verschlag« unter einer Treppe inmitten verschiedener alter Papiere auf ein DIN-A5-Heft mit den ersten fünf Kapiteln der handschriftlichen Urfassung von Brigitte Reimanns Roman »Die Geschwister«. In diesem Haus, Liselotte-Herrmann-Straße 20, hat die Autorin in den 60er Jahren gewohnt. Sie war 1960 mit ihrem damaligen Mann Siegfried Pitschmann nach Hoyerswerda gezogen, um im Kombinat Schwarze Pumpe im Zuge des Bitterfelder Weges Erfahrungen in der sozialistischen Produktion zu sammeln.

Als das Buch im April 1963 erschien, sorgte es in der DDR für Aufregung. Denn mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 war die deutsche Teilung endgültig besiegelt. Im selben Jahr 1963 erschien auch Christa Wolfs Buch »Der geteilte Himmel«, das sich ebenfalls mit jener nationalen Tragödie befasst. Ist es hier ein Liebespaar, das durch die Teilung Deutschlands auseinandergerissen wird, so erzählt Brigitte Reimann von Bruder und Schwester, die drohen, sich dadurch zu verlieren.

Im Sommer 1961, gerade ist ihr Buch »Ankunft im Alltag« fertig, beginnt sie mit dem neuen, das ihr besonders auf den Nägeln brennt. Denn es ist die stark autobiografisch gefärbte Geschichte der Geschwister Elisabeth und Uli – nachdem ihr Bruder Lutz im Jahr zuvor mit seiner jungen Familie die DDR Richtung Westdeutschland verlassen hat. Unmittelbar nach dem Mauerbau am 13. August notiert sie desillusioniert in ihrem Tagebuch: »Das ist nicht der Sozialismus, für den wir schreiben wollten.« Schon Tage zuvor, als sie mit ihrem Manuskript in einer Krise steckt, schreibt sie unter das vierte Kapitel die Worte: »Die Geschwister sind verlogen.« Im Briefwechsel mit dem Bruder diskutiert Brigitte Reimann ganz offen die Vor- und Nachteile beider deutscher Gesellschaften, nachzulesen im Band »Post vom Schwarzen Schaf«.

Wie die Autorin mit den Schwierigkeiten an ihrem entstehenden Roman ringt, lässt sich erahnen, wenn am 10. Januar 1962 nur ein verzweifeltes »Scheiße! Scheiße!« im Originalmanuskript steht. Sie spürt, wie schwer sich ihr persönliches Dilemma, der Schmerz um den Verlust des Bruders, mit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung in Übereinstimmung bringen lässt: »entsetzliche Aufregung wegen der ›Geschwister‹«, heißt es am 24. August 1962 im Tagebuch. »Das Manus[kript] mit den Änderungsvorschlägen ist zurückgekommen, die Stasi-Szene gestrichen, die Kunst-Diskussion gestrichen; alles, was an Gefühl oder gar – horribile dictu! – an Bett gemahnt, ist gestrichen, und jetzt kann man meine schöne Geschichte getrost in jedem katholischen Mädchenpensionat auslegen.« Doch Aufgeben wäre ihre Sache nicht. An ihrem einmal begonnenen Projekt hält sie fest.

Die beiden Herausgeberinnen Angela Drescher und Nele Holdack machen im Einzelnen deutlich, an welchen Stellen und aus welchen Gründen bestimmte Passagen aus dem Original gestrichen worden sind. Was politisch nicht passte oder moralisch anstößig wirkte, musste verschwinden. Umso größer jetzt die Überraschung, auf den Anfang des längst verlorenen Originals zu stoßen. Auf einmal gab es die Chance, die ursprüngliche Fassung wiederherzustellen. Es war allerdings nicht nur das Verlagslektorat von damals, das etwas eliminierte.

1968, fünf Jahre nach dem ersten Erscheinen, hat Brigitte Reimann für eine geplante Sammeledition ihrer Werke »Die Geschwister« neu durchgesehen und selbst manches nicht mehr toleriert, was sie 1962/63 in jugendlicher Emphase und mitunter wohl auch politischer Naivität geschrieben hatte. Nachträglich nimmt sie also Änderungen letzter Hand vor, die ihrem nun realistischeren Weltbild entsprechen. In ihrem Tagebuch notiert sie am 1. November 1968: »Finde schrecklich, was ich da früher geschrieben habe, sprachlich und politisch. Ich war ein gutgläubiger Narr. Seit der ČSSR-Affäre hat sich mein Verhältnis zu diesem Land, zu seiner Regierung sehr geändert. Verzweiflung, manchmal Anfälle von Hass.« So revidiert sie die Druckfassung der »Geschwister« gründlich für die Neuausgabe.

Der frische Erzählton der jungen Brigitte Reimann und die Authentizität der erzählten Szenen treten in der nun vorliegenden Fassung wieder stärker hervor. Sie macht die ursprüngliche Intention der Autorin sichtbar und offenbart noch einmal, welch kraftvolle Erzählerin sie ist.

In ihrem großen Roman »Franziska Linkerhand«, an dem sie buchstäblich bis zu ihrem Tod geschrieben hat, prägt sie ein Bewusstsein von den Möglichkeiten und Desillusionierungen der Gesellschaft, die sich den Sozialismus auf die Fahnen geschrieben hat. Er ist gewissermaßen das literarische Testament der Autorin, der immer wiederkehrenden Krebserkrankung abgerungen – für sie selbst ihr wichtigstes Buch. Die junge Architektin Franziska beharrt darauf: »Es muss, es muss sie geben, die kluge Synthese zwischen Heute und Morgen, zwischen tristem Blockbau und heiter lebendiger Straße, zwischen dem Notwendigen und dem Schönen, und ich bin ihr auf der Spur, hochmütig und ach, wie oft, zaghaft, und eines Tages werde ich sie finden.« Auch sie, wie ihre Schöpferin, wird nie aufgeben.

Nach ihrem viel zu frühen Tod am 20. Februar 1973 waren Brigitte Reimanns Romane und Erzählungen nicht vergessen. Doch erst Jahrzehnte danach, mit der Veröffentlichung ihrer Tagebücher »Ich bedaure nichts« (1997) und »Alles schmeckt nach Abschied« (1998), nicht zuletzt des ebenso anrührenden wie ermutigenden Briefwechsels zwischen ihr und der Freundin Christa Wolf, »Sei gegrüßt und lebe« (1993), konnte man sehen, wer Brigitte Reimann – befreit von Zensur und Selbstzensur – wirklich war.

Brigitte Reimann: Die Geschwister, hg. v. Angela Drescher und Nele Holdack. Aufbau-Verlag, 224 S., geb., 22 €.
Ich bedaure nichts. Mein Weg zur Schriftstellerin, hg. v. Angela Drescher. Aufbau-Verlag, 592 S., geb., 26 €.

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