Jugend fordert mehr Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte ein

Junge Erwachsene wünschen sich stärkere Vermittlung von Wissen über die deutsche Vergangenheit

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 5 Min.
Führung für eine Schulklasse im Museum des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz in Polen.
Führung für eine Schulklasse im Museum des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz in Polen.

Yasin Özün kann sich noch gut an seine Schulzeit erinnern, erst vor zwei Jahren hat der junge Mann in Berlin Abitur gemacht. Was ihn damals am Unterricht störte: die mangelhafte Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Das lag laut Özün nicht nur an fehlender Zeit, sondern auch daran, dass außerschulische Angebote keine Rolle spielten. Besuche an Orten der Erinnerung, etwa einer KZ-Gedenkstätte? Das sah der Lehrplan nicht vor. Özun interessierte sich trotz allem für die deutsche NS-Geschichte, auch vor dem Hintergrund, dass er im Alltag selbst Diskriminierung erfährt. Sein Opa kam einst als kurdischer Gastarbeiter nach Deutschland.

Der Gegenwartsbezug von Geschichte ist etwas, nach dem Özün immer wieder gefragt wird, wenn ihn junge Leute im Berliner Anne Frank Zentrum ansprechen. Er ist dort als freier Mitarbeiter tätig, die Bildungsstätte bietet neben einer Ausstellung über das jüdische Mädchen auch verschiedene Fortbildungen für junge Menschen und Pädagog*innen an, etwa dazu, wie mit Antisemitismus im Alltag umgegangen werden kann.

Özun steht durchaus stellvertretend dafür, was das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielfeld in seiner neuen Studie, dem Multidimensionalen Erinnerungsmonitor (Memo), herausgefunden hat. Die Ergebnisse wurden am Dienstag in Berlin vorgestellt. Es ist die sechste repräsentative Erhebung dieser Art, die diesjährige Memo-Studie widmet sich der Frage, wie es um das Wissen junger Menschen im Alter von 16 bis 25 Jahren über die NS-Zeit bestellt ist, ob und wie sie sich damit auseinandersetzen und welche Rolle Erinnerungskultur in ihrem Alltag spielt.

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»Jungen Erwachsenen wird gern historisches und politisches Desinteresse unterstellt. Unsere Befragung ergibt jedoch das Bild einer in weiten Teilen engagierten und interessierten Generation«, sagt der Sozialpsychologe Jonas Rees. Mehr als 62 Prozent der Befragten gaben in der Erhebung an, sich »eher intensiv« oder »sehr intensiv« mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt zu haben. Das sind rund zehn Prozentpunkte mehr als in der Memo-Studie 2021, bei der die Allgemeinbevölkerung befragt wurde. Allerdings ist eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit nicht gleichzusetzen mit tatsächlichem Wissen. Es zeigten »sich systematische Lücken mit Blick auf ganz grundlegendes Wissen um historische Fakten«, so Rees. Nur die Hälfte konnte den Zeitraum der NS-Herrschaft korrekt benennen, über 40 Prozent konnten nur einen oder gar keinen Ort – etwa ein Konzentrationslager – benennen, an dem systematische Ermordungen durch die Nazis stattfanden. Etwa ein Fünftel war maximal über eine Opfergruppe der NS-Zeit informiert. Einzelne Gruppen sind dabei besonders wenig bekannt, etwa Menschen mit Behinderungen sowie Sinti*ze und Rom*nja. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind junge Menschen allerdings in der Tendenz meist besser über die NS-Zeit informiert.

Mit einer oft gehörten Annahme kann Rees aufräumen: Entscheidend für die Auseinandersetzung sei vor allem der eigene Bildungshintergrund und der der Eltern, weniger dagegen andere Faktoren wie Alter, Geschlecht oder die Herkunftsgeschichte der Familie. Positiv ist zudem, dass junge Erwachsene für die immer wieder aufkommende Forderung nach einem Ende der Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit kaum empfänglich sind. 76 Prozent lehnen einen solchen »Schlussstrich« ab, in der Gesamtbevölkerung sind es nur 57 Prozent.

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Eine erwartbare und dennoch problematische Entwicklung zeigt sich bei der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der eigenen Familie. Nicht einmal zehn Prozent bejahten, ob sie etwas über Täter*innen unter den eigenen Vorfahren wüssten, in der Allgemeinbevölkerung wissen darüber immerhin rund 24 Prozent Bescheid. »Das Familiengedächtnis schwindet«, mahnt Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die die Memo-Studie finanziell förderte. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: In einigen Familien wird über die Vergangenheit nicht gesprochen, in anderen kann nicht gefragt werden, weil die Generation, die die NS-Zeit erlebte, bereits tot ist.

Wie wichtig die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit für die Gegenwart ist, zeigt ein anderer Befund: 60 Prozent der Befragten gaben laut Studie an, durch die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte für Themen wie Ausgrenzung und Diskriminierung sensibilisiert worden zu sein. »Wer sich mit Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten auseinandersetzt, schaut sensibilisierter auf Diskriminierung heute«, ist Despot überzeugt. Tatsächlich zeigt die Memo-Studie, wer sich intensiver mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt hat, engagiert sich auch deutlich häufiger gesellschaftlich. Allerdings kann dies auch umgekehrt heißen, dass sich engagierte Menschen auch mehr für deutsche Geschichte interessieren.

»Wir brauchen interaktive und partizipative Angebote für Geschichtsvermittlung – innerhalb und außerhalb der Schule«, so Despot. Jungen Menschen ist es laut Studie besonders wichtig, dass Bildungsangebote einen inhaltlichen Bezug zwischen NS-Geschichte und Gegenwart herstellen und sie sich dabei selbst aktiv einbringen können. Gefragt danach, welche Aspekte ihnen bei der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit wichtig sind, sticht neben der Vermittlung von Faktenwissen ein Punkt hervor: Wichtig ist es den jungen Erwachsenen, die realen Orte zu besuchen, an denen sich Geschichte ereignete.

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