- Wirtschaft und Umwelt
- Wohlstandsdebatte
»Wachstum darf kein Ziel an sich sein«
Der Ökonom Benjamin Held erklärt, warum die Wirtschaftsleistung in Sachen Wohlstand nicht alles ist
Es findet derzeit eine Diskussion über angeblich drohende Wohlstandsverluste in Folge der Alterung der Gesellschaft statt. Wie schätzen Sie als Ökonom und Wohlfahrtsexperte die Lage ein? Wird es zu einem Wohlfahrtsverlust kommen?
Der Ökonom Benjamin Held leitet am Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) in Heidelberg den Arbeitsbereich »Nachhaltige Entwicklung«. Ein Schwerpunkt seiner Forschung ist die Aktualisierung und Weiterentwicklung des Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI), mit dem der Wohlstand alternativ zur Wirtschaftsleistung gemessen wird. Mit ihm sprach Simon Poelchau.
Im Rahmen des demografischen Wandels kann es durchaus zu Wohlfahrtsverlusten kommen. Wenn es aufgrund der Alterung der Gesellschaft weniger Erwerbspersonen gibt, dann können auch – so die Arbeitsproduktivität nicht entsprechend ansteigt – weniger Waren und Dienstleistungen produziert werden, die Wirtschaftsleistung geht also zurück. Aber in Bezug auf den Wohlstand und die Wohlfahrt ist die Sache komplizierter.
Warum?
Hier sind jenseits der Wirtschaftsleistung weitere Faktoren zu berücksichtigen, die gegenläufige Effekte haben können. Im Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI), unserem Ansatz zur Messung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsentwicklung, zeigen sich verschiedene dieser Effekte: Kommt es aufgrund des demografischen Wandels zu Konsumrückgängen, dann hat das negative Wohlfahrtswirkungen. Kommt es darüber hinaus zu einem Anstieg der Altersarmut, wirkt sich das zusätzlich negativ aus. Wenn die Menschen, die in den Ruhestand gehen, aber ihre freie Zeit für sinnvolle Tätigkeiten wie die Betreuung ihrer Enkel oder ehrenamtliches Engagement nutzen, dann hat das wiederum positive Auswirkungen. Auch kann die Verringerung der Produktion zu einem Rückgang von klimaschädlichen Emissionen, Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung führen, was wiederum positiv in den NWI eingeht.
Laut Ihren Berechnungen waren Umweltschäden auch der Grund, warum die Wohlfahrt trotz Wirtschaftswachstums im Jahr 2021 zurückgegangen ist.
Die Flutkatastrophe an Ahr und Erft hat zu massiven Schäden geführt. Das war ein zentraler Faktor, warum die im NWI gemessene Wohlfahrt im Jahr 2021 zurückgegangen ist. Ein anderer Grund war, dass der Ressourcenverbrauch und die Treibhausgas-Emissionen wieder angestiegen sind, nachdem sie 2020 aufgrund der Corona-Pandemie relativ stark zurückgegangen waren.
Wie hat sich der Wohlstand im vergangenen Jahr entwickelt?
Hier liegen leider noch nicht alle Daten vor, um den NWI vollständig berechnen zu können. Da die realen Konsumausgaben – trotz hoher Inflationsraten – im vergangenen Jahr aufgrund der Normalisierungs- und Aufholeffekte im Zuge der Corona-Pandemie recht deutlich angestiegen sind, gehen wir aber momentan davon aus, dass der NWI gestiegen ist. Auch hatten die Sparmaßnahmen von Industrie und Verbrauchern positive Auswirkungen auf die Klimabilanz, auch wenn wieder mehr Kohlekraftwerke laufen.
Wie wichtig ist dann die Wirtschaftsleistung für die Wohlfahrt?
Das ist eine schwierige Frage, die man nicht pauschal beantworten kann. Natürlich braucht es eine wirtschaftliche Grundlage, damit die Menschen konsumieren und die öffentliche Infrastruktur und Daseinsfürsorge sichergestellt werden können. Insofern ist die wirtschaftliche Wertschöpfung ein zentraler Pfeiler für Errungenschaften wie ein funktionierendes Gesundheits- und Sozialsystem. Die Frage ist aber, ob man – ab einem gewissen Grundniveau – weiteres Wirtschaftswachstum braucht, um die Wohlfahrt zu mehren, oder ob andere Faktoren wie soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz wichtiger sind.
Wie hat sich dann langfristig die Wohlfahrt im Vergleich zur Wirtschaftsleistung entwickelt?
In den letzten rund 30 Jahren gab es diesbezüglich in Deutschland verschiedene Phasen: Von 1991 bis etwa zur Jahrtausendwende sind BIP und NWI beide gestiegen. Von 1999 bis 2005 ist die Wohlfahrt dann allerdings zurückgegangen. Von 2005 bis 2013 blieb die Wohlfahrt konstant, während die Wirtschaftsleistung mit einer Unterbrechung in der Finanzkrise anstieg. Von 2013 bis 2019 sind dann sowohl BIP als auch NWI wieder gestiegen, während beide in der Coronakrise deutlich zurückgegangen sind.
Woran lag es, dass die Wohlfahrt in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts trotz Wirtschaftswachstums nicht stieg, sondern zeitweilig sogar zurückging?
Das liegt insbesondere an einem Anstieg der sozialen Ungleichheit. Bis 2005 stieg die Einkommensungleichheit deutlich an. Danach blieb sie auf hohem Niveau relativ konstant, mit leichten Ausschlägen nach oben und unten. Das zeigt, dass das Wirtschaftswachstum damals nicht bei allen Menschen ankam. Erst ab 2013 profitierten auch untere Einkommensgruppen wieder vom Wachstum, was deren Konsumausgaben und den allgemeinen Wohlstand im Land steigerte.
Können Sie abschätzen, wie sehr politische Maßnahmen wie die Agenda 2010 oder die Einführung des Mindestlohns 2015 den Wohlstand beeinflusst haben?
Die Einführung des Mindestlohns hat höchstwahrscheinlich dazu beigetragen, dass die Wohlfahrt gestiegen ist, da dies in den unteren Einkommensbereichen zu Lohnsteigerungen führte. Die Politik unter Rot-Grün zum Anfang des Jahrtausends hingegen hat sicherlich zur Verschärfung der Einkommensungleichheit beigetragen. Das lag nicht allein an der Agenda 2010, sondern auch an der Senkung der Spitzensteuersätze. Gleichzeitig war damals aber auch die Arbeitslosigkeit hoch. Deutschland galt als der kranke Mann Europas. Insofern ist schwierig zu sagen, wie stark die Effekte der Maßnahmen waren beziehungsweise wie die Entwicklung ohne diese Maßnahmen ausgesehen hätte.
Ihnen zufolge belasten die Ungleichheit und Umweltauswirkungen des Wirtschaftswachstums die Wohlfahrt. Inwiefern hat die Degrowth-Bewegung dann recht, wenn sie eine Abkoppelung des Wirtschaftens vom Wachstum fordert?
Wirtschaftswachstum darf kein Ziel an sich sein, sondern immer nur ein Mittel zum Zweck. Wenn man den gesellschaftlichen Wohlstand erhöhen will, dann muss das ökologisch nachhaltig gemacht werden. Insofern muss man auch auf die negativen Folgen des Wirtschaftswachstums achten. Letztlich ist die Herausforderung, wie wir innerhalb unserer planetaren Grenzen auf eine friedliche Art und Weise die Bedürfnisbefriedigung von möglichst vielen Menschen sicherstellen können.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.