Zukunftsstädte im Wandel der Zeit

Seit zehn Jahren beschäftigt sich die Fraunhofer-Gesellschaft im Programm »Morgenstadt« mit urbaner Transformation

  • Manfred Ronzheimer
  • Lesedauer: 7 Min.

Das 21. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Städte. Niemals zuvor lebten so viele Menschen in urbanen Zentren, und der Trend setzt sich weiter fort. Bis zum Jahr 2050 werden 2,4 Milliarden Menschen zusätzlich in die urbanen Räume ziehen und damit insgesamt etwa 70 Prozent der Weltbevölkerung in städtischen Gebieten leben.

Doch Städte sind in ihrer heutigen Form gigantische Ressourcenfresser, weit entfernt von ökologischer Nachhaltigkeit. Deshalb arbeiten Wissenschaftler verstärkt an neuen Konzepten für die Stadt der Zukunft. Wichtige Erfahrungen hat etwa das Programm »Morgenstadt« der Fraunhofer-Gesellschaft für angewandte Forschung gesammelt.

Die Bedeutung der urbanen Transformation und der dafür nötigen wissenschaftlichen Vorbereitung hat vor wenigen Wochen auch die Bundesregierung in ihrer neuen »Zukunftsstrategie Forschung und Innovation« hervorgehoben. »Ob die Transformationsprozesse gelingen, entscheidet sich maßgeblich auf lokaler Ebene in den Städten und Gemeinden«, heißt es in dem Strategiepapier, das in einjähriger Arbeit unter Federführung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) in Abstimmung mit den anderen Ressorts entstanden war. »Eine nachhaltige und integrierte Stadtentwicklung unter Einbeziehung aller Sektoren mit städtischen und regionalen Forschungs- und Innovationsräumen ist essenzielle Voraussetzung für Resilienz und Zusammenhalt in der Gesellschaft«, wird bei der Beschreibung der insgesamt sechs großen Herausforderungen erklärt, die mittels Forschung und Innovation bewältigt werden sollen.

Ziel: Aufträge aus Schwellenländern

Doch nicht alle Blütenträume reifen. Vor einem Jahrzehnt lag die Zukunft im arabischen Sand und trug den Namen »Masdar City«. Aber von der klimaneutralen Retortenstadt in der Wüste von Abu Dhabi redet heute kaum noch jemand. Damals indes faszinierte die urbane Vision auch die Wissenschaft in Deutschland. Der damalige Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft für angewandte Forschung, Hans-Jörg Bullinger, schwärmte von der »totalen Elektromobilität«, die unter Regie der deutschen Wissenschaftler dort ins Rollen kommen sollte.

Das arabische Projekt war auch der Anlass, die stadtbezogenen Forschungsprojekte der 60 Institute in dem Netzwerk »Morgenstadt« zu bündeln. Anfangs mit dem Ziel, wie in Masdar Forschungsaufträge aus den boomenden Megalopolen der Schwellenländer für die klimaneutrale und digitale Transformation zu ergattern. Das kam durch die Veränderung der Wirtschaftsentwicklung nicht zustande, und deshalb hat sich der »Morgenstadt«-Verbund verstärkt der »heimischen« Kundschaft in Deutschland und Europa zugewandt, wo ebenfalls eine große Nachfrage nach Beratung und technischer Hilfe für den zukunftsverträglichen Stadtumbau besteht.

Seit dem Start auf der Hannovermesse 2012 hat das Innovationsnetzwerk »Morgenstadt« über 30 Forschungs-, Entwicklungs- und Transferprojekte mit über 100 Partnern aus Kommunen, Wirtschaft und Forschung realisiert. »Derzeit laufen in der Morgenstadt-Initiative etwas über zehn Projekte«, berichtet Steffen Braun, Direktor des Forschungsbereichs »Urbane Systeme« am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Einige davon in einzelnen Städten, andere im Verbund von mehreren Kommunen oder mit Partnern.

»Aktuell haben wir eine große Breite an laufenden Forschungsprojekten wie im Werksviertel in München, in der ›Morgenstadt: Future District Alliance‹, in der Arealentwicklung ›Quantum Gardens‹, in der ›Straße der Zukunft‹ sowie dem kommenden EU-Projekt ›Urban Planning 2030‹ und dem Projekt ›Smartilience‹ des BMBF«, benennt er einige der Vorhaben, an denen Fraunhofer-Forscher beteiligt sind. »Ziel ist immer, mit einem ganzheitlichem Ansatz innovative Lösungen oder auch Prozesse bedarfsgerecht zu konzipieren und zu pilotieren«, ergänzt Braun. Wissen vor Ort nachhaltig aufzubauen und gute Beispiele für andere Städte nutzbar zu machen, ist eine weitere Maxime des Fraunhofer-Ansatzes.

Bioökonomie und Quantencomputing

Braun hatte auch die Zehn-Jahres-Jubiläumsveranstaltung der Morgenstadt im vergangenen Dezember in Stuttgart mitorganisiert. Dort wurden neben dem im vergangenen Jahrzehnt Gelernten auch die zentralen Herausforderungen für die Smart Cities der Zukunft thematisiert. »Dekarbonisierung, Demokratisierung, (De)Regulation, und Digitalisierung«, werden in der Kongressbilanz als Wandlungstreiber benannt. Morgenstadt-Veteran Bullinger gab die Empfehlung, »einen stärkeren Fokus für die Städte der Zukunft auf Bereiche wie Bioökonomie, Kreislaufwirtschaft sowie die Integration zukunftsweisender Schlüsseltechnologien wie Quantencomputing und künstliche Intelligenz« zu legen.

Einen Schub haben im letzten Jahrzehnt die Verfahren zur Bürgerbeteiligung in der Stadtentwicklung erfahren, heute als »Co-Creation« bezeichnet. So wurde in der Stadt Ludwigsburg mit Fraunhofer-Unterstützung ein »Makeathon« mit hoher Beteiligung aus der Stadtgesellschaft zur besseren Verkehrsführung veranstaltet. Ermittelt wurden auf diese Weise unter anderem Stresspunkte im Fahrradverkehr. Ein weiteres Ergebnis war die Erstellung virtueller historischer Stadtrundgänge, die von den Bürgern selbst gestaltet wurden.

Zudem wurden »Digital-Labore« in mehreren Städten, vor allem in Baden-Württemberg, eingerichtet. In Konstanz wurden damit Verkehrsdaten visualisiert, in Biberach kam ein neuer Sensor zum Einsatz, mit dem Umweltdaten wie Feinstaub, Luftfeuchtigkeit, Temperatur und Lautstärke gemessen werden können. In Baden-Baden wurde ein »digitaler Fluss« generiert, der auf öffentlichen Terminals die Vereine der Stadt sichtbar macht. Nach Aussage Brauns konnten mit den digitalen Tools der Labore »bis heute erfolgreiche Projekte von der smarten Innenstadt für Tourismus bis zu Innovation Districts realisiert« werden.

Neben der gesamtstädtischen Planung ist die Entwicklung einzelner Quartiere ein Schwerpunkt der Morgenstadt-Initiative. So wird das Münchner Kreativquartier »Werksviertel-Mitte« in einem »Reallabor« als Testfeld für Nachhaltigkeits- und Digitalinnovationen genutzt. Unter anderem werden innovative Konzepte für die Lebensmittelerzeugung in der Stadt erprobt, das sogenannte »Urban Farming«.

Projekte in Mexiko, Peru und Indien

In einigen Städten, so etwa in Prag 2016 wie auch in Übersee, wurden eigene »Morgenstadt City Labs« eingerichtet. Hierbei ist das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe federführend. Das Institut erstellt für die beteiligten Kommunen die fachliche Bewertung zur Energienachfrage und den CO2-Auswirkungen der vorgeschlagenen Projektmaßnahmen für die drei Städte Saltillo (Mexiko), Piura (Peru) und Kochi (Indien). Nach einer Analyse des lokalen Entwicklungsbedarfs entstehen dann in den City Labs »reproduzierbare und finanzierbare Lösungen und Strategien, die die Pilotstädte durch gezieltes Capacity Building nachhaltig stärken«, erklärt Fraunhofer-Forscherin Susanne Bieker.

Der internationale Wissensaustausch läuft unter dem Titel »Morgenstadt Global Initiative«, die vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) über die Internationale Klimaschutzinitiative IKI gefördert und von der Universität Stuttgart koordiniert wird. Ziel ist es, mithilfe der Labs integrierte Strategien und Roadmaps für eine nachhaltige Stadtentwicklung in den Pilotstädten mit den Kommunalvertretern vor Ort zu entwickeln und umzusetzen.

So wurde für Saltillo, eine der am schnellsten wachsenden Städte im Nordosten Mexikos mit rund einer Million Einwohner, eine Nachhaltigkeitsvision für den Wasser-, Energie- und Mobilitätssektor der Stadt erarbeitet. Zwei der konkreten Projektideen sind bereits auf dem Weg der Umsetzung. Zum einen werden Unternehmen, die bei der Verbesserung ihrer Energieeffizienz besonders erfolgreich waren, mit einem Preis ausgezeichnet, um Nachahmer unter den Betrieben der Industriestadt zu gewinnen. Das zweite Vorhaben befasst sich mit der Zusammenführung »blauer und grüner Infrastrukturen« in der Stadt. Dabei wird eine Annäherung an den natürlichen Wasserkreislauf angestrebt. Die Flächenentsiegelung erhöht die Wasseraufnahmekapazität in Flüssen und Böden, fördert die Grundwasseranreicherung und sorgt durch das ökologische Prinzip der »Schwammstadt« für eine erhöhte Resilienz und ein besseres urbanes Kleinklima.

»Der partizipative und co-kreative Ansatz dieser City Labs ermöglicht ein hohes Maß an lokaler Eigenverantwortung«, berichtet die globale Projektkoordinatorin Catalina Diaz vom Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) der Universität Stuttgart. »Es ist jetzt an der Zeit, die globalen und nationalen Ziele auf die lokale Ebene herunterzubrechen«, ergänzt ihr Projektkollege Jose Antonio Ordonez, der am Fraunhofer ISI das Geschäftsfeld Globale Energiewende betreut. »Mit den City Labs unterstützen wir die Energiewende und das Erreichen der Ziele des Pariser Klimaabkommens sowohl global als auch lokal und bringen uns mit Expertise aus unserem Querschnittsthema der Transformations- und Innovationssysteme für urbane Räume ein«.

Globaler und kommunaler Austausch

Nach dem Projektstart im November 2019 haben inzwischen in allen drei Pilotstädten die Umsetzungsschritte begonnen. Die Projektergebnisse wurden der akademischen Öffentlichkeit und relevanten lokalen Stakeholdern in Workshops vorgestellt und gemeinsam konkrete Projektideen für Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen diskutiert. In Kochi (Indien) liegt die weitere Entwicklung des Pilotprojekts nach Aussage des Fraunhofer-ISI jetzt in den Händen »einer lokalen Akteursgruppe, die aus Vertreterinnen und Vertretern der Bürgervereinigungen aus dem Projektgebiet besteht«.

Der City-Lab-Ansatz will einen doppelten Wissensaustausch realisieren: zwischen den Ländern des Nordens und des Südens bei der Nutzung technologischer und administrativer Lösungen, aber auch zwischen den Pilotkommunen untereinander mit ihren unterschiedlichen Praxiserfahrungen. Die voranschreitende Klimakrise legt nahe, mit diesem Ansatz auch andere Städte bei ihrem Umbau zur Nachhaltigkeit und Klimaverträglichkeit zu unterstützen.

Die Verbreitung der Fraunhofer-Expertise zur wissenschaftlich gestützten Modernisierung der Städte soll in den kommenden Jahren weiter fortgesetzt werden. Dabei ist geplant, dass auch »digitale Werkzeuge mit Künstlicher Intelligenz sowie neue Kooperationsmodelle« verstärkt zum Einsatz kommen. Die nachhaltige Stadt soll auch eine »Smart City« werden.

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