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»Die Grundversorgung ist drittklassig«

Manel Ferran Mercadé über die Proteste gegen den Verfall des öffentlichen Gesundheitswesens in Spanien

  • Ralf Streck, San Sebastián
  • Lesedauer: 5 Min.
Ungewöhnliche Einheit im Baskenland, alle Gewerkschaften gemeinsam auf der Straße zur Verteidigung des Gesundheitssystems hier in Irún, aber auch in Vitoria, Bilbao und San Sebastián.
Ungewöhnliche Einheit im Baskenland, alle Gewerkschaften gemeinsam auf der Straße zur Verteidigung des Gesundheitssystems hier in Irún, aber auch in Vitoria, Bilbao und San Sebastián.

Der Unmut in Spanien über die Entwicklung im Gesundheitswesen ist groß. Auch in den baskischen Großstädten sind zuletzt am vergangenen Samstag zehntausende Menschen gegen Privatisierungen und zur Verteidigung eines öffentlichen und hochwertigen Gesundheitswesens auf die Straße gegangen. Sind Sie zufrieden mit den Demonstrationen?

Interview

Manel Ferran Mercadé ist Berater
der »Spanischen Vereinigung für Familien
und Gemeinschaftsmedizin« (semFYC)
und Sprecher für den Bereich der Grundversorgung der Basisorganisation
»SOS Bidasoa« in Irún.

Sehr. Es war ein großer Erfolg. Aber es fehlten junge Menschen. Das gibt zu denken. Wohin führt das, wenn junge Menschen nicht so etwas Wichtiges wie das öffentliche Gesundheitswesen verteidigen?

War es nicht erstaunlich, dass alle Gewerkschaften mobilisiert haben?

Ja. Im Gesundheitswesen gibt es eigene Gewerkschaften, dazu kommen die allgemeinen. Alle waren da. Normalerweise sind sie zerstritten. Die Ärzte-Gewerkschaft streitet sich mit der von Pflegerinnen und Pflegern. Die streiten sich mit den anderen Gewerkschaften. Die baskischen liegen im Clinch mit den spanischen, da die baskischen ELA und LAB eher auf soziale Konfrontation setzen, die spanischen CCOO und UGT auf Sozialpakte. Dass alle mobilisiert haben, sagt viel aus.

Wie kam es zu der ungewöhnlichen Einheit? UGT und CCOO haben hier gegen die Politik einer Regierung in Madrid protestiert, in der die Baskisch-Nationalistische Partei mit den spanischen Sozialdemokraten regiert, denen diese Gewerkschaften nahestehen.

Das hängt mit dem Vorgehen der Regierung zusammen. Die Gewerkschaften gehen entweder gar nicht in den Dialog mit der baskischen Regierung oder verlassen ihn. Es wird nichts verhandelt, sondern nur mitgeteilt. Da das inakzeptabel ist, gibt es diese Einigkeit.

Was ist das Problem hier? Das Baskenland rühmt sich, über das beste Gesundheitssystem im spanischen Staat zu verfügen. Wieso gehen nun auch hier Beschäftigte und Patienten auf die Barrikaden?

Ich kenne mich am besten in der primären Gesundheitsversorgung aus, wo ich 35 Jahre gearbeitet habe. Wir haben den Eindruck, dass die aufgegeben wurde. Es kam zu einer brutalen Dekapitalisierung, was mit der Zentralisierung zu tun hat. Anfang des Jahrhunderts setzte eine sogenannte Integration in Spanien ein. Zuvor gab es zwei eigenständige Systeme: einen Haushalt für die Grundversorgung und einen für Krankenhäuser. Diese Mode drang vor zehn Jahren ins Baskenland vor. Nun gibt es auch hier nur noch einen Chef und einen Haushalt. Darunter litt vor allem die Grundversorgung, die nun drittklassig ist. Viel Geld floss ab, da Hospitäler ein Fass ohne Boden sind. Aber umso stärker man die primäre Versorgung ausblutet, umso mehr Menschen landen zur teuren Behandlung in Krankenhäusern.

Wird im Baskenland nicht besonders viel für Gesundheit ausgegeben?

Es gehört zu den Regionen, wo am meisten Geld pro Kopf ausgegeben wird. Wir liegen über dem Landesdurchschnitt. Setzt man die Ausgaben aber ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, denn es ist ein vergleichsweise reiches Gebiet, liegen wir unter dem Durchschnitt. Aber die Frage ist, wofür Geld ausgegeben wird. Es gibt hier zwar weniger Privatkliniken, aber es wird viel Geld für externe Beratung ausgegeben. Dazu wird Material gekauft, das kein Arzt angefordert hat. Niemand weiß, wozu es eingesetzt werden soll. Die überdurchschnittlichen Ausgaben kommen nicht als bessere Behandlung bei den Patienten an. Das hat sich in den vergangenen Jahren immer deutlicher gezeigt.

Sie haben lange in Katalonien gearbeitet, wo weniger Geld pro Kopf ausgegeben wird. Aus eigener Erfahrung würde ich aber sagen, dass man dort sogar besser betreut wird als hier. Woran kann das liegen?

Das System ist anders organisiert. Krankenhäuser sind meist Konsortien oder Firmen der öffentlichen Hand, die von Bezirken, Städten und bisweilen auch von der Kirche betrieben werden. Das macht die Organisation schwierig, da man viele Unternehmen mit Leitungsgremien hat. Das ist aber nicht teurer als das zentralisiertere baskische Modell. Klar ist, dass in Katalonien viel weniger Geld pro Kopf ausgegeben wird, die Resultate sind sicher aber nicht schlechter als hier.

Hat das auch mit dem Politikstil hier zu tun, der zu Reibungsverlusten führt?

Ein hierarchischer und autoritärer Führungsstil hat sich hier weiter verstärkt, vor allem als in der Pandemie eine neue Ministerin kam. Es findet kein Dialog mit Gewerkschaften oder den Beschäftigten statt. Maßnahmen werden ohne Debatte von oben durchgedrückt, vor allem in der Grundversorgung. Große Krankenhäuser haben zwar auch kaum Autonomie, aber sie verfügen über eine faktische Gegenmacht. Aber auch dort wird protestiert, da man auch deren Anliegen nicht ernst nimmt. In Katalonien ist der Dialog mit den Gewerkschaften auch nicht viel besser. Aber auf wissenschaftlicher und professioneller Ebene wird auf Augenhöhe debattiert. Im Leitungsgremium sitzen Ärzte, die ihre Kollegen an der Basis nicht wie Untergebene oder Befehlsempfänger behandeln. Hört man denen zu, die die täglichen Probleme der Arbeit kennen, ist es einfacher, Lösungen zu finden. Tut man das nicht, erzeugt man Konflikte. Bestenfalls werden die Maßnahmen dann wie hier genervt und schlecht umgesetzt. Die Ergebnisse sind entsprechend. Wir haben nun sehr lange Wartelisten, welche die Ministerin mit dem Fehlen von Ärzten begründet.

Stimmt das?

Bisher fehlen keine Ärzte, setzt man die Anzahl in Bezug zur Bevölkerungszahl. Spanien ist das Land mit der zweitgrößten Anzahl an medizinischen Fakultäten weltweit. Die Frage ist nur, wo finden sich die vielen Ärzte? Ein guter Teil ist nicht im öffentlichen Gesundheitswesen, sondern im privaten Sektor. Noch weniger finden sich in der Grundversorgung, da die Arbeitsbedingungen dort schlecht sind, die Bezahlung mies und dazu kommt eine starke Belastung. Junge Leute tun sich das nicht an. Dazu kommt eine fehlende Planung. Es dauert elf Jahre, bis ein Arzt die komplette Ausbildung durchlaufen hat. Die Politik plant aber bestenfalls in Wahlperioden von vier Jahren. Da nun viele Ärzte in Rente gehen, hilft es jetzt wenig, schnell die Zahl der Studienplätze zu erhöhen. Es war klar, dass ein Problem aufbricht, wenn in wenigen Jahren nun 30 Prozent aller Ärzte pensioniert werden. Die Regionen haben auch zu wenig Ärzte ausgebildet, was in ihrer Kompetenz liegt. Aber das kostet Geld. Ich war Verantwortlicher für die Ausbildung von Spezialisten in Barcelona und kann sagen, dass in diesem Fall nie das Problem bei der Zentralregierung lag. Dort wurde immer die von uns vorgegebene Zahl genehmigt.

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