Kitas: »Überlastung ist die Regel«

Der Elternvertreter Alex Liefermann über Missstände in der frühkindlichen Bildung

  • Interview: David Bieber
  • Lesedauer: 6 Min.
Bildung – Kitas: »Überlastung ist die Regel«

Herr Liefermann, wie geht es Ihnen und Ihrem jüngeren Sohn in der Kita-freien Zeit? Was unternehmen Sie so?

Wir haben Sommerferien, und zum ersten Mal seit Langem bedeutet das auch: drei Wochen ohne Sorgen, ob die Kita heute öffnet oder wieder spontan ausfällt. Kein morgendliches Zittern, keine Notfallorganisation. Wir unternehmen viel als Familie: Spielplätze, Schwimmen, Ausflüge, Freizeitpark. Die Zeit genießen ohne Stress, ohne Plan B im Hinterkopf. Das ist eine echte Ausnahme und zeigt leider auch, wie belastend der Normalzustand inzwischen geworden ist.

Sie sind Elternvertreter in der Kita Ihres Sohnes und seit mehreren Jahren öffentlich engagiert für frühkindliche Bildung und in der Kita-Politik. Sie sagen unumwunden: Was ich in dieser Zeit erlebt, dokumentiert und berichtet bekommen habe, ist ein krasses Systemversagen. Ist das vielleicht eine überzeichnete Einzelwahrnehmung eines besorgten und überengagierten Vaters?

Nein. Ich bin kein Einzelfall und auch kein Helikoptervater. Ich bin einer von Millionen Eltern, die seit Jahren das Gleiche erleben: Gruppen, die regelmäßig wegen Personalmangels schließen. Kinder ohne feste Bezugspersonen. Fachkräfte im Burn-out. Und Behörden, die schweigen. Das ist kein individueller Missstand, das ist strukturelles Staatsversagen.

Interview

Alex Liefermann (41), zweifacher Vater, Elternvertreter in Düsseldorf und seit vier Jahren öffentlich engagiert in der frühkindlichen Bildung, ist Initiator mehrerer Elternproteste, betreibt einen Tiktok-Kanal zur Bildungskrise und vernetzt deutschlandweit Eltern, Erzieher*innen und Bildungsakteure.

Auf die Probleme angesprochen, wiegeln die zuständigen Behörden oft ab. Sagen, dass die Kitas im Großen und Ganzen funktionieren. Tatsächlich erleben Erzieher*innen, Eltern und Kinder täglich etwas anderes. Woher kommt die Diskrepanz zu den Erfahrungen, die Ihnen berichtet werden?

Weil auf dem Papier alles funktioniert. Quoten, Belegungszahlen, Investitionsprogramme – das sieht aus wie Fortschritt. Aber in der Praxis erleben wir etwas anderes: zu wenig Personal, zu viele Kinder, keine Zeit für pädagogische Arbeit. Es geht oft nur noch um Aufsicht, nicht um Bildung. Die Realität vor Ort wird kleingeredet, weil man nichts an den Ursachen ändern will oder kann.

Auch andere Eltern bestätigen, dass vielerorts ihre Kinder allzu oft in den Kitas nur »geparkt« werden. Diese »Aufbewahrungsstationen« sind also politisch so gewollt?

Zumindest wird es billigend in Kauf genommen. Kitas werden primär als wirtschaftspolitisches Instrument verstanden: Hauptsache, die Eltern sind irgendwie »entlastet«. Aber was da in vielen Einrichtungen passiert, hat mit früher Bildung wenig zu tun. Kinder verlernen Bindung, Sprache und Selbstwirksamkeit und das hat langfristig dramatische Folgen. Natürlich gibt es auch Einrichtungen, in denen es gut läuft – mit engagierten Teams, stabiler Leitung und funktionierenden Strukturen. Aber das sind leider Ausnahmen. Die Regel ist: Überlastung, Improvisation, struktureller Mangel.

Wann wird die Wirtschaft Alarm schlagen und sagen, dass sie die Eltern im Unternehmen braucht und nicht zu Hause zur Notbetreuung, wenn mal wieder kurzfristig eine Kita dichtmacht?

Zu spät. Bisher kompensieren Unternehmen stillschweigend. Aber, wenn Eltern aussteigen, weil sie keine Betreuung bekommen, wird es teuer – wirtschaftlich wie gesellschaftlich. Und es trifft vor allem Frauen. Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist längst eine Farce geworden.

Angenommen, Sie sind ab morgen Entscheidungsträger in Düsseldorf: Was würden Sie für Kitas und die Frühbildung sofort verändern?

Erstens einen Notfallplan für Personalbindung, bessere Bezahlung, gezielte Rückgewinnung, Prämien für Überlastete. Zweitens würde ich die Ausbildung reformieren. Heißt: praxisintegrierte und bundesweit einheitliche Vergütung. Drittens braucht es eine echte Qualitätsoffensive mit kleineren Gruppen, verbindlichen Standards, Kontrolle der Träger. Und ich würde aufhören, die Lage schönzureden. Ehrlichkeit ist der erste Schritt zur Lösung.

Sie haben sich auch kürzlich mit einem Schreiben an das NRW-Familienministerium gewandt. Was ist dabei herrausgekommen?

»Vielen Dank für Ihre Rückmeldung«, so beginnt das Antwortschreiben aus dem Ministerium. Was folgt, ist eine Mischung aus Zahlenkolonnen, Beruhigungsfloskeln und Zukunftsversprechen. Doch was nützt das, wenn Eltern täglich ohne Betreuung dastehen? Der Brief bedankt sich freundlich, sagt aber faktisch: Es bleibt, wie es ist. Die Zustände sind bekannt, aber echte Konsequenzen oder schnelle Veränderungen bleiben aus. Verantwortung wird auf Träger abgeschoben, während das Ministerium sich hinter Maßnahmen und Statistiken versteckt. Dein Anliegen wird abgeheftet, nicht gelöst. Die Landesregierung spricht von »vereinfachtem Zugang« für ausländische Fachkräfte. Wer kümmert sich aber um Sprache, Integration, Anleitung? Auch diese Maßnahme wird verpuffen, wenn die Rahmenbedingungen nicht verbessert werden. Die Politik zeigt auf die Träger. Die Träger zeigen auf die Gesetzgebung. Die Landesjugendämter sagen: »Wir wissen, dass es brennt – aber löschen können wir nicht.« Keiner fühlt sich zuständig. Die Folge: Gruppen werden geschlossen, Kinder abgelehnt, Erzieher*innen brechen ab. Die Kita-Krise wird verwaltet und eben nicht gelöst.

(Am Ende des Gesprächs schaut Liefermann auf sein Smartphone. Verzieht sein Gesicht. Er wundert sich.) Was ist passiert?

Ich wurde soeben von Familienministerin Josefine Paul in den sozialen Medien blockiert. Es erschüttert mich, dass sie trotz mehrfacher Versuche meinerseits, einen konstruktiven Dialog zu führen, konsequent auf die Sorgen und Anliegen betroffener Familien nicht eingeht. Ein persönlich vereinbartes Gespräch wurde kurzfristig abgesagt und durch ein oberflächliches 15-minütiges Telefonat ersetzt, obwohl ich dafür extra eine Wohnung in Düsseldorf angemietet habe, abgelegen in einer Seitenstraße. Dieses Verhalten, kombiniert mit dem Blockieren in den sozialen Medien, zeigt eine erschreckende Gesprächsverweigerung und fehlende Verantwortung.

Wird sich die Situation für Eltern verbessern, wenn ab August 2026 ein Anspruch auf Ganztagsbetreuung auch in der Schule eingeführt wird?

Nein, es bahnt sich bereits die nächste bildungspolitische Krise an. Ich habe das Thema öffentlich angesprochen und auch politisch adressiert – aber substanzielle Antworten bleiben aus. Wir schaffen es seit Jahren nicht, eine funktionierende und bundesweit einheitliche Kita-Struktur aufzubauen. Dieses Problem ist ungelöst und dennoch wird nun mit der Einführung der Ganztagsbetreuung ab 2026 in den Grundschulen das nächste Großprojekt gestartet, beginnend mit den Jahrgangsstufen A1 und A2. Man öffnet das nächste Baustellenloch, ohne das vorherige geschlossen zu haben. Auch dieses Vorhaben wird scheitern, wenn sich an der Herangehensweise nichts ändert. Für mich als Vater ist das schlichtweg eine Katastrophe, und erneut bleibt die Politik die Antworten schuldig. Was Josefine Paul hier betreibt, hat mit echter Familienpolitik nichts zu tun; das ist Arbeitsverweigerung auf dem Rücken unserer Kinder, Familien und Erzieher*innen. Dass auch Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sich nicht explizit äußert und uns Eltern ebenso Antworten schuldig bleibt, ist respektlos und unverschämt. Am Ende sind wir die Verlierer: unsere Kinder, die Erzieher*innen und wir, die Familien.

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