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  • Rainald-Goetz-Comeback

»Hysterie, Euphorie und Horror«

Rainald Goetz ist wieder da – mit einem Text und einem Vortrag in Berlin

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Unweit des Steffi-Graf-Stadions im Berliner Ortsteil Grunewald, wo die reichen Leute wohnen und auch Jens Spahn im Lockdown eine Villa erwarb, steht das Wissenschaftskolleg (WiKo) zu Berlin, eine Institution für exzellente Forscher aus aller Herren Länder, in der sie alimentiert ein Jahr residieren und in relativer Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können. Dort sitzt auch die Redaktion der »Zeitschrift für Ideengeschichte« (ZIG). Im Februar erschien eine Ausgabe zum Thema »Kleingedrucktes«, zusammengestellt vom Germanisten Carlos Spoerhase und vom Juristen Florian Meinel. Es geht um die oft übersehene Textform Impressum, Straßenschilderstadtpolitik, Fußnoten der letzten Papst-Enzyklika, Herrschaftskritik durch Kleinschreibung und die Bedeutung der Banane in der Geschichte der EU.

Das ist alles sehr lesenswert. Der Grund aber, warum es bei der Präsentation dieses Heftes vergangene Woche im Wissenschaftskolleg rappelvoll war, ist der erste Text in der Ausgabe. Er stammt von Rainald Goetz. Ein weiterer Grund ist die Bereitschaft des Büchner-Preisträgers von 2015, mehr als zehn Jahre nach Erscheinen seines letzten Romans »Johann Holtrop« und sieben Jahre nach seiner letzten größeren Rede öffentlich eine Blattkritik der neuen »ZIG« vorzunehmen.

Goetz Text heißt »Absoluter Idealismus. Bericht«. Es handelt sich um eine Reflexion über Lesen, Denken, Schreiben mit Sätzen zum Unterstreichen, Namen zum Nachschauen und Titeln zum Merken. Er schreibt, dass »blitzhafte Assoziationskaskaden« dem Denken die Dinge eröffneten – solche kämen ihm beim Radfahren in Berlin-Mitte. Die Aufgabe besteht für ihn darin, die schriftliche Rekonstruktion zu meistern, denn »DAS KLEINGEDRUCKTE der Rekonstruktion« müsse auch »dem realen inneren Zusammenhang des Dings entsprechen«. Sein Denken wird dann jäh von zwei Verkehrspolizistinnen unterbrochen, weil er bei Rot über eine Ampel gefahren ist – die politische Megametapher der heutigen Regierung.

In seinem Bericht geht es um die »Initialnähe«, die da sein muss bei der Frage, was man lesen, rezipieren könnte, aber nicht kennt, und um den »intuitiven Gespürvorgang«, worauf man sich einlässt und was man lässt. Ordnung schafft die Öffentlichkeit in ihren »Grundzuständen«, die da wären: »Hysterie, Euphorie und Horror«. Es bleibt herrlich abstrakt. Der 68jährige Goetz ist ein Autor, der seinen Lesern lange nahebleibt, vielleicht weil er im Text ganz bei sich ist. Die meisten Menschen in Feuilleton, Kultur- und Wissenschaftsbetrieb lesen gerne über den Materialismus dieses Zeitungslesers, der Bildbetrachtungen über Aufmacherseiten schreibt und mit »zeitstabilen Objekten«, Büchern etwa, hantiert. Er selbst denkt sich als eine Art Medium, das jenes Kleingedruckte, das auf ihn zukommt, nur richtig kanalisieren und ordnen muss, damit die richtige Schrift wie von selbst entsteht. Die Frage, ob »die Ampel an ihrer eigenen Kompliziertheit verrückt geworden« sei oder nicht, solle man sich selbst beantworten. Denn das »Arkanum der Macht« könne mit der Bereitschaft, Zeitung zu lesen, durchaus ergründet werden.

Bei seiner »Blattkritik« im Wissenschaftskolleg waren viele Leute, die diese Ergründbarkeit mitverantworten, indem sie Zeitungen machen, Zeitschriften, im Prinzip für alle in Bibliotheken erreichbare Wissenschaftsbücher schreiben, an Universitäten lehren. Goetz eröffnete seinen Vortrag mit der Behauptung, Zeitschriften seien »soziale Energie«, denn Menschen machten sie zusammen. Diese Gemeinschaft heiße er gut, ähnlich der »scientific community«. Nun, manche dieser Zusammenschlüsse mögen in der Praxis wohl auch Superabsorber sein. Goetz will ein »flatterhaftes« und »huschendes« Denken und Schreiben, was wohl die schöne Form des Abgehobenseins beschreibt. Wer will diesen Zustand in Wahrheit nicht? Es mag orakelartige Erwartungen an Goetz geben, wenn er doch nur so selten noch öffentlich wird. Aber er war nie Prophet oder verklemmter Leitartikler, bei aller Feuilletonnähe, sondern tatsächlich ein »Chronist der Gegenwart«.

An dem Abend geht es um das Kleingedruckte. Goetz hält die Zeitschrift »Das Wetter« und die Zeitschrift »Sinn und Form« in die Höhe, zwischen deren Gründungsdaten mehr als 60 Jahre liegen. Beide Redaktionen werden sich sehr gefreut haben. Er kritisiert Maxim Biller für dessen unfaire Darstellung des WiKo, wo dieser kürzlich gastierte, in einem Text für die »Zeit«. Und es geht um das Interview mit Springer-Chef Mathias Döpfner im »Manager-Magazin«, darum, wie er den führenden Digitalkonzern Europas konstruieren will. Das behagt Goetz nicht.

Nicht allzu spät verschwindet Goetz Richtung Taxi. Die Professorinnen und Redakteure und Stipendiatinnen bleiben in der Villa zurück. »Loslabern«, wie es Goetz einst deklamierte, tun hier die wenigsten, ist es doch eine sich immer wieder verschließende Gesellschaft, die sich um die Öffentlichkeit kümmert. Das Video vom Vortrag im Grunewald geht bald online. Letztlich ist eine mögliche Lektion aus Text und Heftpräsentation, dass wir uns von den mittlerweile großgedruckten, festgefahrenen Kategorien der Kritik nicht die eigene, anstrengendere, frustrierende, schönere »Welterforschung« vorschreiben lassen sollen.

»Zeitschrift für Ideengeschichte«, Nr. 17/1, 20 €.

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